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Behavior Based Safety
Auf das Verhalten kommt es an
Wenn technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen ausgereizt sind und die Unfallzahlen trotzdem nicht zurückgehen, kann der verhaltensorientierte Arbeitsschutz eine Lösung bieten. Für die Methode Behavior Based Safety braucht es aber bestimmte Voraussetzungen.
Text: Stefan Ganzke
Während zwischen den Jahren 1995 und 2012 die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle mit mehr als drei Tagen Ausfallzeit nahezu halbiert werden konnte, ist ein solcher Trend seither nicht mehr zu erkennen. Ein Blick auf die heutigen Arbeitsunfälle zeigt deutlich, dass es nicht die Maschinen und Arbeitsmittel sind, die Arbeitsunfälle auslösen, sondern mit bis zu 90 Prozent die Entscheidungen und Verhaltensweisen von Menschen. So gehören Stolpern, Rutschen und Stürzen (SRS-Unfälle), das falsche Bedienen von Werkzeugen und Maschinen sowie das falsche Heben, Tragen und Lagern seit Jahren zu den häufigsten Ursachen von Arbeitsunfällen.
Immer mehr produzierende und produktionsnahe Unternehmen erkennen, dass der Einsatz der konventionellen technischen, organisatorischen und personenbezogenen Schutzmaßnahmen nicht ausreichend zu sein scheint. Die Suche nach Lösungen im verhaltensorientierten Arbeitsschutz findet daher kontinuierlich mehr Anklang in den Branchen. Die wissenschaftlich am häufigsten untersuchte Methode ist hierbei Behavior Based Safety (BBS). Diverse Studien belegen, dass mit dieser Methode Arbeitsunfälle in einem Unternehmen um bis zu 80 Prozent reduziert werden können, weil konkret am Verhalten der Menschen gearbeitet wird.
AUF DEN PUNKT
- Einstellung, Kommunikation und Führungsverhalten als entscheidende Faktoren
- Verhaltensänderung ist ein über Jahre angelegter systematischer Prozess
- Behavior Based Safety bestraft kein Fehlverhalten, sondern bestärkt positives Verhalten
Ein Nachteil des BBS-Ansatzes ist, dass er entgegen einiger Meinungen nicht pauschal in jedem Unternehmen eingesetzt werden kann. Im Gegenteil: Es gibt leider einige Beispiele, wo Behavior Based Safety in Unternehmen eingeführt wurde, in denen weder Führungskräfte und Mitarbeiter noch die Organisation selbst darauf vorbereitet waren. Die schwerwiegende Folge ist in diesen Fällen, dass eine gute Methode bei den Menschen vor Ort sprichwörtlich verbrannt wird und ein zweiter Anlauf durchaus schwierig ist.
Die DNA der Sicherheitskultur eines Unternehmens setzt sich aus vier Bestandteilen zusammen:
- BE (Behavior Based Safety)
- SL (Safety Leadership)
- KO (Kommunikation)
- MI (Mindset)
Voraussetzung 1: Safety Mindset
Damit die Einführung von BBS erfolgreich und auch nachhaltig erfolgen kann, müssen Unternehmen bestimmte Voraussetzungen an die Sicherheitskultur erfüllen. Hierzu gehört, dass sowohl die Führungskräfte als auch die Mitarbeiter das richtige Safety Mindset besitzen. Kurz gesagt: Solange die Mehrheit der Menschen in einem Unternehmen die Einstellung vertritt, dass Arbeitsschutz nur ein notwendiges Übel ist, wird die Einführung von Behavior Based Safety ohne nachhaltigen Erfolg bleiben.
Ein klarer Indikator, der gegen eine erfolgreiche Einführung spricht, ist beispielsweise eine zu geringe Anzahl von Beinaheunfall-Meldungen. Sicherlich mag es in einigen Unternehmen so sein, dass die Menschen aus Angst vor Konsequenzen keinen Beinaheunfall melden. Ab und an sind auch die Prozesse zur Meldung und Analyse von Ereignissen so komplex, dass die Hürden vermeidbar hoch gesetzt werden. Sehr oft ist es erfahrungsgemäß jedoch die Einstellung von Führungskräften und Mitarbeitern gegenüber Beinaheunfällen, die von einer Meldung abhalten. Hintergrund ist hierbei, dass der Vorteil nicht erkannt wird – schließlich ist jemandem ja nur fast etwas passiert. Wie soll bei einer solchen Sichtweise die Einführung von Behavior Based Safety möglich sein? Schließlich geht es dabei um die Kommunikation über sicheres Verhalten, die zur DNA der Sicherheitskultur gehört.
Voraussetzung 2: Kommunikation
Neben dem notwendigen Safety Mindset bei der Mehrheit der Führungskräfte und Mitarbeiter braucht es eine positive und präventive Regelkommunikation zum Arbeitsschutz. Die Abfrage von Arbeitsunfällen und Beinaheunfällen am Shopfloor Board – also der Infotafel in der Produktionsstätte – ist grundlegend ein wichtiger Schritt. Es darf allerdings nicht mit dem Eintrag an der Tafel enden.
Damit der Arbeitsschutz von den Menschen im Unternehmen als etwas Positives wahrgenommen wird, braucht es entsprechende Strukturen und Prozesse in der Kommunikation. Ein einfaches Beispiel hierfür sind Unterweisungen. Entweder ich langweile die Beschäftigten als Arbeitsschützer mit unzähligen Power-Point-Folien. Damit werde ich nahezu keinen Lernerfolg erzielen. Oder ich beteilige die Mitarbeiter, beispielsweise mit kleinen Gruppenarbeiten statt Power-Point-Präsentationen. Es ist außerdem sinnvoll, bestimmte Anlaufstellen in den Unternehmensbereichen zu schaffen, wo sich gezielt über Arbeitsschutz informiert werden kann. Richtig geführte Sicherheitskurzgespräche oder Begehungen, bei denen auch positive Entwicklungen wahrgenommen und kommuniziert werden, sind ebenfalls Möglichkeiten für eine positive und präventive Regelkommunikation. Es gilt auch hier: Je mehr es als normal angesehen wird, über Arbeitsschutz und mögliche Fehler zu sprechen, desto einfacher fällt es den Menschen auch, sich auf die Methode Behavior Based Safety einzulassen.
Voraussetzung 3: Safety Leadership
Eine weitere wichtige Säule ist das Management und damit verbunden die operativen Führungskräfte. Wenn hier kein Verständnis oder keine richtige Befähigung vorliegt, wird es schwierig. Deshalb brauchen Management und operative Führungskräfte im Vorfeld auch ein Training, wie sie den verhaltensorientierten Arbeitsschutz gestalten können. Hierbei sollte neben der Haltung auch an den Möglichkeiten der Kommunikation und Beteiligung gearbeitet werden. Erst wenn die Führungskräfte in die Lage versetzt worden sind, den verhaltensorientierten Arbeitsschutz voranzutreiben und entsprechende Prozesse und Strukturen zu entwickeln (Safety Leadership), kann es losgehen.
Beteiligung im Arbeitsschutz
Die BBS-Methode lebt von der Beteiligung der Menschen im Unternehmen. Dafür sollten die Beschäftigten frühzeitig aktiv in den Arbeitsschutz eingebunden werden. Diese Beteiligung kann unterschiedliche Prägungen im inhaltlichen und zeitlichen Umfang besitzen. Es kann sich beispielsweise um ständige und flexible Gremien handeln, die eng mit dem Arbeitsschutzausschuss oder einem Lenkungskreis Sicherheitskultur – falls vorhanden – zusammenarbeiten. Ein mögliches Thema für ein ständiges Gremium kann die Ableitung von ganzheitlichen Maßnahmen bei Unfallschwerpunkten im Unternehmen sein. Bei flexiblen Gremien könnte es die Beschaffung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) oder die Planung von Sicherheits- und Gesundheitstagen sein.
Langfristige Strategie statt punktueller Maßnahmen
Eine Sicherheitskultur ist immer ein Bestandteil der Unternehmenskultur und steht somit in einer starken Wechselbeziehung zu der Organisation und den Mitarbeitern selbst. Wenn ein Unternehmen die notwendigen kulturellen Voraussetzungen zur Einführung von Behavior Based Safety noch nicht besitzt, dann sollte auf keinen Fall mit punktuellen Maßnahmen eine Änderung herbeigeführt werden.
Die meisten deutschen Unternehmen befinden sich erfahrungsgemäß im Sinne der Bradley-Kurve (siehe Abbildung unten) in der Entwicklungsphase II, also in der Aufsichts- und Kontrollphase. Der Weg in die erforderliche Entwicklungsphase III dauert meistens Jahre. Aus diesem Grunde ist es ratsam, dass Unternehmen zu Beginn eine Strategie mit einem systematischen Maßnahmenplan erarbeiten, der über bis zu drei Jahre die nächsten Schritte vorgibt. Eine solche individuell zum Unternehmen passende Sicherheitskultur-Strategie sorgt dafür, dass die Organisation und die Menschen richtig abgeholt werden und keine Überforderung eintritt. Schließlich sorgt eine Überforderung mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Strategie und ihre Maßnahmen scheitern werden.
Die Bradley-Kurve
Die Grundlagen von Behavior Based Safety
Die Methode Behavior Based Safety basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Gebiet der Verhaltenspsychologie. Das Ziel dieser Methode ist es, das menschliche Verhalten gezielt zu verändern, also die Transformation vom unsicheren zum sicheren Verhalten am Arbeitsplatz. Entgegen der einen oder anderen Meinung handelt es sich bei der Methode nicht um ein weiteres Werkzeug zur Durchführung von Begehungen oder Beobachtungen mit dem Ziel, unsicheres Verhalten von Menschen zu sanktionieren.
Ein Beispiel für ein solches Missverständnis berichtete eine Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) aus einem Unternehmen in Norddeutschland. Hier wurden „goldene Regeln“ aufgestellt, gegen die auf keinen Fall verstoßen werden durfte. An einem Tag sah die Fachkraft, dass der Fahrer eines Gabelstaplers nicht angeschnallt war. Die Folge hieraus: eine Abmahnung. Keine Frage nach den Hintergründen, einfach nur eine Abmahnung. Kein Einzelfall, sondern ein Standard im Unternehmen, um mehr sicheres Verhalten zu erhalten und Arbeitsunfälle zu reduzieren, so die Sifa. Das Problem: In einem solchen Unternehmen wird die Zahl der gemeldeten Arbeitsunfälle (von Beinaheunfällen ganz zu schweigen) sehr niedrig sein. Denn wer möchte schon freiwillig das Risiko eingehen, bei einer unsicheren Handlung oder einem Arbeitsunfall mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen sanktioniert zu werden?
Der wissenschaftliche Ansatz von Behavior Based Safety geht in eine ganz andere Richtung. Der Fokus dieser Methode gilt weniger den Sanktionen, sondern der Verstärkung von sicheren Verhaltensweisen. Ziel ist es, durch die Anerkennung von sicheren Verhaltensweisen während der Arbeit diesen Zustand zu verbessern. Hierbei nutzt BBS im Wesentlichen fünf Prinzipien.
1. Prinzip: Definition von sicherem Verhalten
Die menschliche Wahrnehmung von Risiken ist unterschiedlich. Während für einen Mitarbeiter der Sprung aus dem noch rollenden Gabelstapler ein hohes Unfallrisiko darstellt, empfindet ein anderer das Verhalten als vollkommen sicher. Ein Grund hierfür ist die Verzerrung, die unterbewusst im menschlichen Gehirn abläuft. Wenn schon lange nichts passiert ist (und erst recht kein schwerer Arbeitsunfall), dann wird das Risiko oftmals falsch eingeschätzt. Aus diesem Grunde ist das erste Prinzip von Behavior Based Safety so wichtig. Das Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis über das sichere Verhalten zu definieren. Diese Definition ist das Fundament für alle weiteren vier Prinzipien.
2. Prinzip: Durchführen von Beobachtungen
Das zweite Prinzip zielt auf die Beobachtung von Mitarbeitern ab. An dieser Stelle ist das erforderliche Safety Mindset von großer Bedeutung. Eine gegenseitige Beobachtung wird in der Entwicklungsphase II nach Bradley-Kurve kaum möglich sein und führt zu Ablehnung. In der Entwicklungsphase III hingegen liegt bereits eine intrinsische Motivation für den Arbeitsschutz vor. Die Menschen achten hierbei allerdings noch vermehrt nur auf die eigene Sicherheit und weniger auf die der anderen. Unsicheres Verhalten wird weniger angesprochen. Damit Beobachtungen auch zielgerichtet erfolgen können, benötigen die Mitarbeiter Schulungen. Ergänzend braucht es ein Commitment zwischen allen Beteiligten im Unternehmen, dass diese Vorgehensweise gewollt ist.
3. Prinzip: Feedback zum Verhalten geben
Das dritte Prinzip zielt auf das Feedback gegenüber den Mitarbeitern und ihren Verhaltensweisen ab. Hierbei wird sowohl sicheres als auch unsicheres Verhalten angesprochen und anonym dokumentiert.
4. Prinzip: Zielsetzungen vereinbaren
Im vierten BBS-Prinzip geht es um das Setzen von Zielen. Hierbei definieren die Mitarbeiter eines Bereichs selbst, in welchen zeitlichen Etappen die sicheren Verhaltensweisen steigen sollen. Um beim Beispiel des Gabelstaplers zu bleiben, kann vereinbart werden, dass die Anzahl an sicheren Verhaltensweisen beim Absteigen vom Stapler binnen zwei Wochen von 50 Prozent auf 70 Prozent steigen soll. Danach könnten in weiteren zwei Wochen die 90 Prozent und danach auch die 100 Prozent anvisiert werden. Dieser Fortschritt kann dann auch mit Kennzahlen aus Beobachtungen (zweites Prinzip) überwacht werden.
5. Prinzip: Positive Verstärkung
Eine solche Verstärkung erfolgt durch die direkte Vergabe von positivem Feedback in unterschiedlicher Art und Weise. Grundlegend geht es hierbei nicht um monetäre Mittel, weil diese nachweislich nur kurzzeitig Erfolge bringen. Hier ist es der Daumen nach oben, der Schulterklopfer oder beim Erreichen von Zielen das Getränk auf Kosten der Führungskraft oder ein Essen in der Kantine.
Fazit
Die Einführung des wissenschaftlichen Ansatzes von Behavior Based Safety lohnt sich für Unternehmen, die ihre Sicherheitskultur weiterentwickeln wollen. Bei der Mehrheit der Beschäftigten im Unternehmen sollte eine intrinsische Motivation für den Arbeitsschutz vorhanden sind. Genau hier liegt jedoch auch die Herausforderung. Im deutschsprachigen Raum besitzt die Mehrheit der Menschen in den Unternehmen noch eine externe Motivation für den Arbeitsschutz. Sie betrachten Arbeitsschutz eher als notwendiges Übel, das Zeit und Geld kostet. Für diese Unternehmen gilt es, nichts zu überstürzen. Wenn die Sicherheitskultur erfolgreich weiterentwickelt werden soll, dann braucht es eine systematische Strategie mit konkreten Maßnahmen, wie in den nächsten Jahren am Safety Mindset, der positiven und präventiven Regelkommunikation sowie an der Befähigung der Menschen im Unternehmen gearbeitet werden kann. Direkt hieran kann dann Behavior Based Safety andocken und die Arbeitsunfälle wirklich nachhaltig reduzieren.
DER AUTOR:
Stefan Ganzke ist zusammen mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der WandelWerker Consulting GmbH. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, gemeinsam mit ihrem Team die Einstellung von Führungskräften und Mitarbeitern zum Arbeitsschutz im Unternehmen zu verbessern. Hierfür wird sowohl mit den Sicherheitsingenieuren und Fachkräften für Arbeitssicherheit als auch mit den Führungskräften trainiert und strategisch am betrieblichen Arbeitsschutz gearbeitet. Weitere Informationen unter: www.wandelwerker.com
Darüber, wie eine betriebliche Sicherheitskultur systematisch und nachhaltig weiterentwickelt werden kann, haben Anna und Stefan Ganzke das Buch „Arbeitsschutz beginnt im Kopf“ geschrieben, das in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Es kann bestellt werden unter: www.arbeitsschutzbuch.de