Kulturelle Vielfalt als Chance für den Arbeitsschutz

Die zunehmende kulturelle Vielfalt in der Arbeitswelt stellt nicht nur Herausforderungen dar, sondern bietet auch Potenziale für eine gute Präventionskultur. Kultursensible Führung und Kommunikation sind Schlüssel für Sicherheit und Gesundheit in multikulturellen Teams.

Text: Evelien Jonkeren, Nadja Schilling

AUF DEN PUNKT:

  • Unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen können die Präventionskultur stärken – wenn die Kollegen und Kolleginnen mit Migrationshintergrund aktiv eingebunden und wertschätzend gefördert werden
  • Betriebsanweisungen und Sicherheitsunterweisungen müssen so gestaltet sein, dass sie kulturelle Unterschiede berücksichtigen und für alle verständlich sind
  • Empathie, klare Kommunikation und ein vorbildlicher Umgang mit Fehlern sind entscheidend für Sicherheit, Gesundheit und Zusammenarbeit in vielfältigen Teams

In der Diskussion um Arbeitsschutz wird kulturelle und sprachliche Vielfalt oft als Problem genannt. Sprachbarrieren und die daraus resultierenden Missverständnisse oder ungewohnte Verhaltensweisen gelten als Hindernisse für sicheres Arbeiten. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. In Wirklichkeit kann kulturelle Diversität die Präventionskultur sogar stärken – wenn sie aktiv gestaltet und integriert wird.

Migration und Vielfalt in der Arbeitswelt

2023 erreichte die Zuwanderung in die OECD-Länder erneut ein Rekordniveau, rund 6,5 Millionen Menschen wanderten dauerhaft zu. Die Hintergründe sind vielfältig. Migration ist nicht ausschließlich wirtschaftlich begründet – oft spielen auch politische, familiäre oder klimatische Umstände eine Rolle. Die Zugewanderten bringen dabei unterschiedliche Voraussetzungen mit. Während qualifizierte Fachkräfte auf zumeist ausreichend vorbereitete Arbeitsumgebungen treffen, arbeiten viele gering qualifizierte Beschäftigte unter unsicheren Bedingungen.

Der Start ins Berufsleben in einem neuen Land ist für viele Zugewanderte mit Herausforderungen verbunden: eine neue Sprache lernen, Behördengänge, soziale Isolation – das alles erschwert die Integration. Hinzu kommt ein möglicher „Kulturschock“, der häufig einsetzt, wenn die anfängliche Euphorie nachlässt. Gefühle von Heimweh, Überforderung oder sozialer Ausgrenzung können das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen – mit Folgen für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Hier braucht es langfristige Unterstützungsangebote, die auch psychische Belastungen berücksichtigen.

Interkulturelle Sensibilisierung als Grundlage

Ein wesentlicher Aspekt kultursensiblen Arbeitsschutzes ist das Verständnis kulturell geprägter Unterschiede. Diese betreffen nicht nur die Sprache, sondern auch Werte, Kommunikationsstile und Risikoeinschätzungen. Unterschiedliche Vorstellungen von Autorität, Zeitmanagement, Teamarbeit oder Feedback können zu Missverständnissen führen – insbesondere, wenn sie unausgesprochen bleiben.

Ein Beispiel: Der Satz „Seien Sie bitte pünktlich“ kann je nach kulturellem Hintergrund ganz unterschiedlich interpretiert werden. Während in manchen Kulturen fünf Minuten Verspätung als unhöflich gelten, sind in anderen zehn Minuten noch völlig akzeptabel. Gleiches gilt für Kritik, die je nach Herkunft direkt oder eher indirekt formuliert wird.

Ziel interkultureller Sensibilisierung ist es, ein Bewusstsein für solche Unterschiede zu schaffen – ohne dabei in Stereotype zu verfallen. Es geht nicht darum, Checklisten für Kulturen abzuarbeiten, sondern darum, mit Differenzierung, Offenheit und Respekt aufeinander zuzugehen. Dieses Verständnis stärkt die Zusammenarbeit und trägt dazu bei, Risiken frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

Integration als Teil der Präventionskultur

Die Integration von Beschäftigten mit Migrationshintergrund ist mehr als eine organisatorische Aufgabe – sie ist ein wichtiger Bestandteil der Unternehmenskultur. Unternehmen, die kulturelle Vielfalt aktiv fördern, investieren in ein inklusives und resilientes Arbeitsumfeld. Das ist nicht nur sozial wünschenswert, sondern auch ökonomisch sinnvoll – etwa angesichts des wachsenden Fachkräftebedarfs.

Zentrale Voraussetzung dafür ist eine präventionsorientierte Haltung, die Unterschiede nicht als Störfaktor, sondern als Bereicherung betrachtet. Die Etablierung einer offenen Fehlerkultur, klarer Kommunikationswege und gemeinsamer Sicherheitsstandards hilft dabei, alle Beschäftigten einzubinden – unabhängig von Herkunft, Sprache oder Bildungshintergrund.

Kultursensible Kommunikation im Arbeitsschutz

Kultursensible Kommunikation beginnt mit der Einsicht, dass vermeintlich Selbstverständliches nicht für alle gleich gilt. Was in einer Kultur als höflich oder sachlich gilt, kann in einer anderen als distanziert oder gar unfreundlich empfunden werden. Umso wichtiger ist es, Betriebsanweisungen und Sicherheitsunterweisungen so zu gestalten, dass sie klar verständlich, praxisnah und wertschätzend vermittelt werden.

Das bedeutet auch: Schulungen sollten nicht isoliert, sondern als Teil einer lebendigen Sicherheitskultur gedacht werden. Ergänzende Maßnahmen wie visuelle Hilfen, gemeinsame Übungsformate oder mehrsprachige Materialien können helfen – ebenso wie ein Vorleben sicherheitsgerechten Verhaltens durch Vorgesetzte und Kolleginnen und Kollegen.

Entscheidend ist, dass Maßnahmen nicht als Sonderregelung für „die anderen“ gestaltet sind, sondern der gesamten Belegschaft zugutekommen. Nur so kann verhindert werden, dass Unterstützungsangebote als bevormundend oder gar diskriminierend wahrgenommen werden.

Kultursensible Führung als Schlüsselfaktor

Führungskräfte nehmen im kultursensiblen Arbeitsschutz eine zentrale Rolle ein. Sie sind nicht nur dafür verantwortlich, Regeln zu kommunizieren und auf ihre Einhaltung zu achten, sondern auch dafür, ein Umfeld zu schaffen, in dem Sicherheit, Gesundheit und interkulturelle Zusammenarbeit gelebt werden. Das erfordert Empathie, klare Kommunikation und die Fähigkeit, kulturelle Unterschiede konstruktiv aufzugreifen.

Ein wertschätzender Führungsstil bedeutet auch, Leistungen anzuerkennen und konstruktives Feedback zu geben – auf eine Weise, die Vertrauen aufbaut und den Einzelnen stärkt. Gerade in Bezug auf Fehlerkultur kommt Führung eine Vorbildfunktion zu: Wer Fehler als Lernchance begreift und offen damit umgeht, schafft eine Grundlage für mehr Sicherheit im Team.

Dabei gilt: Integration darf nicht auf Einzelmaßnahmen reduziert werden. Sie muss langfristig angelegt, strukturell verankert und auf alle Beschäftigten bezogen sein. Was Zugewanderten hilft, kann oft der gesamten Belegschaft nützen – etwa im Umgang mit Belastung, in der Kommunikation oder bei der Gestaltung von Schutzmaßnahmen.

Fazit

Kulturelle Vielfalt stellt mit Blick auf den Arbeitsschutz nicht ausschließlich eine Herausforderung dar – sondern sie eröffnet auch Potenziale. Unternehmen, die Vielfalt aktiv gestalten, schaffen ein sicheres, gesundes und respektvolles Arbeitsumfeld für alle. Voraussetzung ist eine bewusste Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden, eine klare Führung und eine offene Kommunikation. Wer diese Elemente als Teil einer präventionsorientierten Unternehmenskultur versteht, profitiert langfristig – personell, sozial und wirtschaftlich.

Erstveröffentlichung dieses gekürzten Beitrags: DGUV Forum 4/2025

DIE AUTORINNEN:

Evelien Jonkeren und Dr. Nadia Schilling arbeiten bei der Berufsgenossenschaft für Verkehr (BG Verkehr) und engagieren sich darüber hinaus in der IVSS (Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit). Die Internationale Sektion für Prävention im Transportwesen bietet Expertinnen und Experten im Bereich der sicheren und gesunden Arbeitsplatzgestaltung im Transportwesen eine Plattform für den Austausch von Präventionswissen. Weitere Informationen unter www.issa-transportation.org