- Titelthema
- Editorial
- Kurz & Knapp
- Praxis
- Produkte & Märkte
- Unterhaltung
- Vorschau
Aufs Dach gestiegen
Dachdecker leben gefährlich. Jährlich werden etwa 9.000 Arbeitsunfälle registriert. Besonders schwerwiegend sind Abstürze. Technische Maßnahmen wie der Einsatz von Stufenleitern und technologischer Fortschritt wie der Einsatz von Drohnen sollen die Arbeit sicherer machen.
Behände wie eine Katze klettert Marcel Pagel die Sparrenlücken hinauf. Die neuen dunklen Ziegel kleiden bereits das Satteldach des Einfamilienhauses, nun muss nur der First fertig werden. „Hier oben zu stehen und an der frischen Luft zu arbeiten, war der Grund, Dachdecker zu werden. Für mich gibt es keinen schöneren Beruf“, sagt der 33-jährige Dachdeckermeister aus Friedland in Mecklenburg-Vorpommern mit einem Lächeln.
KOLLEGE ERLEIDET NACH ARBEITSUNFALL GESICHTSVERBRENNUNGEN
Um ihn so lange wie möglich gesund ausüben zu können, legt er großen Wert darauf, dass er und seine vier Angestellten zwei Grundsätze bei der Arbeit beherzigen: „Erstens: Niemals zwischen den Sparren laufen, die Latten können morsch sein und durchbrechen und dann fällt man nach innen. Zweitens, und das schließt erstens mit ein: Immer wachsam gucken, wo man hintritt.“
Er war gerade im ersten Lehrjahr, da hat Marcel Pagel die schlimmste Lehrstunde seiner bisherigen Berufszeit erleben müssen: Ein erfahrener Kollege war auf der Baustelle vom Dach gefallen, mit dem Bunsenbrenner in der Hand. Er schlug auf dem Boden auf und war bewusstlos. Bis ihn Hilfe ereilte, sprühte der Bunsenbrenner Flammen weiter und verbrannte ihm die Gesichtshaut.
Er erinnere ihn an den verstorbenen Rennfahrer Niki Lauda, sagt Marcel Pagel, der nur zögernd von diesem Ereignis erzählt. Er klopft mit dem gebeugten Zeigefinger auf die Tischplatte – toi, toi, toi. Bisher sei er glimpflich davongekommen. „Der Absturz ist das Schlimmste, was uns passieren kann“, sagt er. Einmal wäre es ihm beinahe passiert. Ein Kollege hatte mit der Kettensäge die Traufen zersägt, das Öl habe sich auf dem Boden verteilt. „Ich bin darauf gelaufen wie auf Eis und ausgerutscht“, sagt er. Zum Glück habe es ein Vordach gegeben, das mit einem Gerüst abgeriegelt war. Das habe ihn vor dem Schlimmsten bewahrt.
Absturzkanten und Bodenöffnungen zu sichern, sind simple Prinzipien, die einen Dachdecker im Alltag jedoch immer wieder aufs Neue herausfordern. Arbeiten auf Dachflächen zählen zu den gefährlichsten Tätigkeiten in der Baubranche. Vor allem dringliche Einsätze bei schlechtem Wetter – wie das Beheben von Abflussverstopfungen oder Schneeansammlungen – erhöhen das Unfallrisiko.
RUND 100.000 UNFÄLLE VERZEICHNET
DIE BAUBRANCHE IM JAHR
„Ein Dachdecker hat in 40 Berufsjahren durchschnittlich drei Arbeitsunfälle. Rund 100.000 Unfälle verzeichnet die Baubranche im Jahr, davon sind etwa 9.000 Dachdecker betroffen – und leider verzeichnen wir nach wie vor im Baugewerbe jährlich circa 40 Todesfälle aufgrund von Abstürzen“, sagt André Büschkes, Vizepräsident des Zentralverbands des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH). Der Arbeitgeberverband vertritt die Interessen von rund 7.000 Betrieben in Deutschland mit Geschäftssitz in Köln.
Der 48-Jährige führt in fünfter Generation den Dachdeckerbetrieb seiner Familie mit acht Angestellten in Euskirchen fort. Er übt die Tätigkeit seit fast 30 Jahren aus – wenn alles gut geht ohne gravierende Verletzungen, denn bisher sei er ohne ernsthafte Unfälle durch sein Berufsleben gekommen. Sein Ansporn als Vizepräsident des Fachverbands und Vorstandsmitglied der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) ist daher, dass es möglichst vielen Kollegen ebenso gut ergeht wie ihm: „Die Unfallzahlen müssen runtergehen. Ich weiß, es klingt platt: Aber das menschliche Leid und die Kosten, die da dranhängen, müssen wir reduzieren.“
PRO TAG IM SCHNITT FAST EIN FERSENBEINBRUCH
Etwa 300 Millionen Euro wendet die BG BAU pro Jahr für die Wiederherstellung von verunfallten Kollegen allein für Leiterunfälle auf: Heilbehandlungen, Reha-Aufenthalte bis hin zu Renten wegen Minderung der Erwerbstätigkeit. Der Fersenbeinbruch sei dabei eine der schwerwiegenden Verletzungen, die rund 350 Mal pro Jahr vorkommt – im Schnitt also rund einer pro Tag. „Ein typischer Leiterunfall. Oft passiert er aufgrund von Ermüdung, wenn die Kollegen zu lange auf der Leiter stehen, oder weil sie abrutschen. Meist handelt es sich dabei um komplizierte Trümmerbrüche, die eine lange Regenerationszeit nach sich ziehen“, weiß André Büschkes. Durchschnittlich ein Jahr dauere es, bis der oder die Verunfallte wieder einsatzfähig sei.
Ein Leiterunfall sei einer der brisantesten Gefahrenquellen im Dachdeckerhandwerk und müsse daher viel mehr Beachtung in der Prävention erfahren, sagt Büschkes. Dies sei eine wesentliche Erkenntnis aus der jüngsten Online-Veranstaltung „Stimmtisch“ im März. Das digitale Treffen vereint rund 150 Mitglieder der Dachdecker-Landesverbände Rheinland-Pfalz und Nordrhein vierteljährlich zu einem Austausch untereinander. „Der Präventionsausschuss der BG BAU ist immer für Anregungen aus der Praxis von Kolleginnen und Kollegen dankbar, die das Arbeiten am Bau sicherer machen. Investitionen in den Arbeitsschutz werden mit bis zu rund 40 Millionen Euro jährlich massiv gefördert“, sagt André Büschkes.
„ICH WEISS, ES KLINGT PLATT: ABER DAS MENSCHLICHE LEID UND DIE KOSTEN, DIE DA DRANHÄNGEN, MÜSSEN WIR REDUZIEREN“
„Stufe statt Sprosse“ lautet der Konsens, den die Dachdecker dabei getroffen hätten. „Wir brauchten eine Änderung der Regel, die nun andere Leitern für mehr Trittsicherheit vorsieht. Da, wo es geht, sollten die herkömmlichen, unfallträchtigen Sprossen- durch Stufenleitern ersetzt werden, weil diese das Sicherheitsniveau deutlich erhöhen.“
Dafür stellt die BG BAU verschiedene Arbeitsschutzprämien als präventive Maßnahmen gegen Absturz bereit, wie zum Beispiel spezielle Bautreppen, Montagesicherungsgeländer für Gerüste sowie Tritte, Arbeitspodeste (nach DIN EN 14183 und/oder DIN EN 131) und Kleinpodeste, die einen freien Stand ohne Festhalten erlauben. Der multifunktionale Einsatz als Tritt, Arbeitsfläche oder Ablage ermögliche ein ermüdungsreduziertes und rückenschonendes Arbeiten.
Auch Treppentürme gehören zu den förderfähigen Maßnahmen mit einer Bezuschussung von rund 50 Prozent der Anschaffungskosten. „Der Bautreppenturm hat sich als eine der besten Errungenschaften zur Unfallvermeidung erwiesen. In ihm bewegt man sich schneller, sicherer und damit entspannter. Der Vorteil ist, dass es sehr angenehm ist, dort hochzugehen. Daher sind die Mitarbeiter wesentlich produktiver, weil sie Werkzeuge in der Hand mitnehmen können“, weiß André Büschkes. Ein Handlauf und ein vernünftiger Auftritt seien eine sicherere Aufstiegsalternative zu den bisher verwendeten innen liegenden Gerüstaufstiegen.
DIE BG BAU BEZUSCHUSST TREPPENTÜRME MIT RUND 50 PROZENT DER ANSCHAFFUNGSKOSTEN
Denn die größte Gefahr birgt die Routine, wie es Dachdeckermeister Marcel Pagel immer wieder erleben muss: Ein Mitarbeiter wäre neulich fast vom Gerüst heruntergefallen. Der Fassadenbauer hatte an dem Tag die Bohle nicht sachgemäß ins Gerüst zurückgeschoben, „sie hing wie eine Wippe auf den anderen Bohlen. Der Mitarbeiter hat nicht richtig hingeguckt und ist dann danebengetreten. Zum Glück hat er sich gerade noch rechtzeitig festhalten können. Aber es hat nicht mehr viel gefehlt und er hätte sich ernsthaft verletzt.“
Doch auch für die körperliche Fitness seien zusätzliche Bemühungen notwendig. Knieprobleme und Bandscheibenvorfälle gehören zu den gängigen Abnutzungserscheinungen. Seit 2011 bietet die BG BAU ihren Mitgliedern aus dem gewerblichen Bau- und Handwerksbereich mit dem Kniekolleg und seit 2019 dem Rückenkolleg ein kostenloses Training an. In diesem Jahr soll das Hüftkolleg hinzukommen. Gezielt sollen Verhaltensweisen und Übungen zur Stabilisierung von Muskeln und Gelenken erlernt werden, um damit einer Berufskrankheit vorzubeugen.
In seinem Betrieb würden derartige Angebote nur zaghaft wahrgenommen, sagt André Büschkes. „Dabei kann ich mich nicht darauf verlassen, dass mein Körper mal eben 45 bis 50 Berufsjahre problemlos mitmacht“, sagt er. Büschkes selbst geht seit mehreren Jahren einmal pro Woche zum Yoga, ein Auftrag an einer Yogaschule habe ihn an das Thema herangeführt. „Als Dachdecker ist es leicht zu sagen ‚Ich bewege mich doch schon den ganzen Tag‘. Dabei ist es wohltuend und gut, wie im Yoga, auch mal Umkehrhaltungen zu den Belastungen des Arbeitstages auszuführen.“
SONNEN- UND HITZESCHUTZ WERDEN AUFGRUND STEIGENDER TEMPERATUREN UND HITZWELLEN WICHTIGER
Der Klimawandel und die steigenden Temperaturen im Sommer haben dazu geführt, dass Sonnen- und Hitzeschutz besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Der ZVDH hat gemeinsam mit der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) eine Lösung für extrem heiße Sommertage erarbeitet, die seit 2021 gilt: das Hitze-Ausfallgeld. Für 53 Stunden pro Dachdecker können Betriebe nun 75 Prozent des Stundenlohns bei den Sozialkassen des Dachdeckerhandwerks (SOKA-DACH) beantragen.
„Wir hatten leider auch schon Hitzetote unter unseren BG-BAU-Versicherten und müssen künftig wohl mit mehr Hitzewellen rechnen“, sagt Büschkes. Eine Palette Wasser für die Mitarbeiter auf der Baustelle ist für ihn daher freiwillige Selbstverpflichtung. Das Thema Sonnenschutz kommt dabei unweigerlich ins Spiel: „Es ist natürlich schön, dass wir da oben auf dem Dach so schön braun werden können, aber wir versuchen oberkörperfreies Arbeiten einzudämmen. Jeder weiß doch inzwischen, dass ein heftiger Sonnenbrand ausreicht, um die Haut nachhaltig zu schädigen und Hautkrebs zu begünstigen.“ Das UV-Schutzpaket mit Kühltasche und Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 von der BG BAU soll die Kollegen animieren, selbst präventiv zu agieren. Auch die Sonnenbrille ist dabei eine essenzielle Zugabe, um die Augen vor Reflexionen und Verblitzen zu schützen.
DROHNEN KÖNNTEN KÜNFTIG FÜR MEHR SICHERHEIT SORGEN
Inzwischen sind auch digitale Lösungen zum Arbeitsschutz auf dem Vormarsch. Bei der Messe in Stuttgart stellte die BG BAU 2020 erstmals ein System für die digitale Gefährdungsbeurteilung vor. Über eine App kann damit am Rechner ein Sicherheitskonzept erstellt werden. „Ich schätze jedoch, dass es noch eine ganze Weile dauern könnte, bis sich das durchsetzt. Vielen fehlt einfach die Zeit, für die ist das eher eine Art Spielerei, die nur unnötigen Aufwand bedeutet“, meint Büschkes.
MERKHEFT DER BG BAU
Umfangreiches Wissen zum „Arbeiten auf Dächern“ enthält das Baustein-Merkheft der BG BAU, das in der neuesten Version von 2021 als PDF abrufbar ist. Über das richtige Anbringen von Schutznetzen bis hin zu sicherem Arbeiten in der Nähe von Funkanlagen bietet das Merkheft weitreichende Informationen zum Arbeitsschutz am und ums Dach.
Zum Merkheft im Internet:
kurzelinks.de/nm8w
Außerdem soll technologischer Fortschritt die Sicherheit erhöhen: So gibt es schon sogenannte „Automatik-Haken“, die es beispielsweise ermöglichen sollen, Bauteile am Kranhaken ferngesteuert abzuschlagen, ohne dass ein Mitarbeiter selbst von Hand einwirken muss. „Das wäre genial, wenn niemand mehr so hoch klettern muss“, sagt André Büschkes. Auch die Drohne komme vermehrt zum Einsatz. „Bei manchen Dingen fragt man sich: Warum hatten wir das nicht früher schon? Dass eine Drohne übers Dach fliegt und perfektes Aufmaß ermöglicht, ohne Einsatz von Menschen, ist ein enormer Schritt für die Sicherheit. Es ist sicher nicht auszuschließen, dass Drohnen künftig auch Dachrinnen säubern oder einen Dachziegel auswechseln.“
Bis der Einsatz von Drohnen ausgereift ist, werden André Büschkes, Marcel Pagel und die anderen Dachdecker aber selbst aufs Dach steigen und auf ihre Sicherheit achten müssen.