KI im Ohr
PSA: Lärm- und Schallschutz
Forscher arbeiten am intelligenten Knopf im Ohr, der unser Gehör schützt und gleichzeitig Gespräche in lauter Umgebung erleichtert. Er soll uns künftig vernetzen, telefonieren lassen, auf Sprachbefehle reagieren und bei beunruhigenden Geräuschen warnen.
Text: Franz Roiderer (Redaktion)
Die Industrie der Zukunft: Zwei Arbeiter in einer lauten Maschinenhalle tragen den vorgeschriebenen Gehörschutz. Trotzdem unterhalten sich die beiden mühelos, direkt an einer ratternden Maschine. Die intelligenten „Hearables“ oder „Smart Headphones“ in ihren Ohren verstopfen nicht einfach ihre Gehörgänge – tatsächlich dichten sie diese überhaupt nicht vollständig ab, sondern vermitteln im Gegenteil akustisch den Eindruck, frei zu hören. Vor allem aber lassen sie Sprache durch und halten nur den Lärm vom Trommelfell fern.
Plötzlich tritt an der Maschine eine Fehlfunktion auf und sie gibt einen Alarmton von sich. Das lässt die beiden Mitarbeiter sofort aufhorchen, denn auf dieses Alarmsignal haben ihre Hearables mit einer Warnmeldung reagiert. Während der eine nun über Sprachbefehle den Fehlerstatus der Maschine abfragt und sie in eine Reparaturposition dirigiert, eröffnet der andere bereits eine Konferenz mit dem Produktionsleiter, der am anderen Ende der Halle in seinem Büro sitzt. In beiden Fällen dienen die Hearables als Headsets, die Verbindungen werden über das lokale WLAN eingerichtet.
AUF DEN PUNKT
- Gehörschutz kann zukünftig zwischen Lärm und Kommunikation unterscheiden
- Intelligenter Gehörschutz wird Kollegen miteinander und mit der Firmen-IT vernetzen
- Der Knopf im Ohr könnte umfassendes Gesundheitsmonitoring ermöglichen
Eine weitere Vision: Ein Arbeiter steckt Teile zusammen und spricht Teilebestellungen laut aus. Sein Hearable leitet die Bestellung direkt weiter ans Warenwirtschaftssystem. Der Knopf im Ohr prüft aber auch, ob die Anzahl der „Klicks“ stimmt, wenn die Steckverbindungen zusammengefügt werden. Sollte das nicht der Fall sein, wird der Arbeiter mittels Sprachnachricht aufgefordert, noch einmal zu kontrollieren.
Viele Funktionen vereint: Gehörschutz, Hörgerät, Headset
Inzwischen zeichnen sich zahlreiche Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (KI) im Ohr ab: Algorithmen unterscheiden Lärm von Sprache, die das Hearable weiterleiten kann. Der Okklusionseffekt – also das unangenehme Gefühl verstopfter Ohren – lässt sich vermeiden. Mit Mikrofonen, Lautsprechern und KI ausgestattet, übernimmt der Gehörschutz hörgerätähnliche Funktionen und kann sogar individuelle Hörbeeinträchtigungen ausgleichen.
Eine aktive Störgeräuschreduktion (Active Noise Cancellation, ANC) verringert die Lärmbelastung zusätzlich. Zugleich kann der Gehörschutz als Headset dienen und Kollegen miteinander vernetzen. Damit wird auch eine Sprachsteuerung von Maschinen und Geräten einfacher. Eine zusätzliche Funktion der Mikrofone am Mitarbeiterohr könnte es sein, Maschinen und Prozesse akustisch zu überwachen und bei verdächtigen Geräuschen den Mitarbeiter zu informieren.
An der Universität Oldenburg, Abteilung für Medizinische Physik und Akustik, ist der Prototyp eines akustisch transparenten Hörsystems entstanden. Dieses verschließt zwar den Gehörgang weitgehend, es soll aber zunächst einmal das störende Gefühl eines verstopften Ohres und unnatürlicher Klänge vermeiden. Im Grundmodus soll das sogenannte Transparent Earpiece nicht zu hören sein, der subjektive Eindruck ist der eines offenen Ohres, während gleichzeitig Lärmereignisse oder gar Knallgeräusche nicht zum Trommelfell durchdringen.
Lärm eliminieren und mit Gegenschall Ruhe erzeugen
Das Transparent Earpiece berechnet aus seinen Eingangssignalen, wie viel Lärm durch die Belüftung eindringt, und eliminiert diesen in Echtzeit. Im Extremfall dienen die Lautsprecher dazu, dem Träger durch den Einsatz von Gegenschall Ruhe zu verschaffen. Das innere Mikrofon dient der Schallaufnahme möglichst dicht am Trommelfell. Damit können die Forscher das Schallergebnis kontrollieren und die Lautsprecherausgabe optimieren.
Die Oldenburger forschen auch daran, Spracherkennung einzubinden. Der intelligente Gehörschutz erlaubt es, selbst in lärmenden Produktionshallen die Stimme des Trägers ziemlich ungestört aufzunehmen, wenn auch ungewohnt verzerrt. Daran lassen sich Spracherkennungsalgorithmen anpassen. Somit könnte ein Arbeiter beispielsweise Sprachbefehle an eine Maschine senden. Oder er könnte einfach und direkt mit einem zentralen Produktionssystem sprechen, etwa um prozessbezogen Teile zu bestellen. Betrieblich vorgeschriebene Dokumentationsaufgaben könnte er freihändig per Spracheingabe erledigen. In beiden Fällen müsste der Arbeiter sich also nicht extra von seinem Platz wegbewegen und die Handschuhe ausziehen, um an einem Touchdisplay eine Eingabemaske auszufüllen.
Gesundheitsmonitoring mit Sensoren im Ohr
Die Liste der denkbaren Zusatzfunktionen für einen intelligenten Gehörschutz ist damit nicht abgeschlossen. Ein Lärmdosimeter ließe sich integrieren, um speziell in sehr lauten Umgebungen zu warnen, falls der Krach droht, dem Gehör trotz Schallschutz dauerhaft zu schaden und Grenzwerte zu überschreiten. Darüber hinaus ist am Ohr ein weitergehendes Gesundheitsmonitoring vorstellbar.
Die Münchner Firma Cosinuss vertreibt bereits heute Hearables mit In-Ear-Sensoren, Software und Streaming-Einheit. Diese messen beispielsweise die Körperkerntemperatur, den Puls, die Sauerstoffsättigung des Blutes und die Atemfrequenz. Als nächsten Schritt will Cosinuss eine Überwachungstechnologie einführen, um damit „blinde Flecken“ – beispielsweise beim Patientenmonitoring in Notaufnahmen – zu füllen. Die Fernüberwachung soll dem medizinischen Personal eine zuverlässige Möglichkeit bieten, die Vitalparameter aller Patienten gleichzeitig und kontinuierlich zu überwachen und unverzüglich über akute Veränderungen informiert zu werden. Damit würde nach Ansicht von Cosinuss das Personal immens entlastet und könnte sich auf die bestmögliche Versorgung der Patienten konzentrieren.
Wearable Computing
Intelligente Ohrhörer (Hearables) sind ein Teilbereich des Wearable Computings. Darunter versteht man Computertechnologien, die man am Körper trägt. Der Unterschied zu anderen mobilen Computersystemen ist im Wesentlichen das Tracking mithilfe von Sensoren, Applikationen sowie spezieller Hard- und Software. Bekannte Beispiele für Wearable Computer sind Smartwatches, Activity Tracker oder Kleidungsstücke, in die elektronische Hilfsmittel zur Kommunikation oder zur Messung von Aktivitäten eingearbeitet sind.
Immer häufiger werden auf Wearable Computing basierende Verfahren auch im Arbeitsschutz genutzt. Dabei messen körpergetragene Sensoren biomechanische und physiologische Kenngrößen. Die Wearables erfassen unter anderem Körperhaltungen und -bewegungen, Kräfte, Herzfrequenzen oder muskuläre Aktivitäten. Ein konkretes Beispiel ist das am Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) entwickelte biomechanische Messsystem CUELA, das Belastungen des Muskel-Skelett-Systems unter realen Arbeitsbedingungen zeigt.