„Längere Operationen können mit gleichbleibender Präzision durchgeführt werden“
Dr. Rössing, Chirurginnen und Chirurgen operieren oft mehrere Stunden am Tag. Dabei müssen sie nicht nur hochkonzentriert zu Werke gehen, sondern ihr Körper ist auch starken Belastungen ausgesetzt. Das kann auf Dauer vermutlich zu arbeitsbedingten Erkrankungen führen?
Rössing: Chirurgen stehen stundenlang vornübergebeugt im Operationssaal und müssen dabei präzise operieren. Das belastet ihre Gelenke, Wirbelsäule und Muskeln. Daher werden Ärzte und Ärztinnen oft selbst geschädigt, während sie andere heilen. Gesundheitliche Folgen reichen von Schmerzen bis hin zu Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Arthrose und Bandscheibenvorfälle. 68 Prozent klagen über allgemeine Schmerzen; 50 Prozent über Beschwerden im Rücken. 48 Prozent haben Nackenprobleme und 43 Prozent Schulterschmerzen. Sie müssen sich daher häufig selbst behandeln lassen, fallen aus oder gehen sogar in den Vorruhestand.
Sie haben jetzt eine ergonomische Arbeitshilfe entwickelt, die die körperlichen Belastungen von Chirurginnen und Chirurgen verringern soll. Wie genau funktioniert das Exoskelett?
Rössing: Wir haben Paexo Shoulder entwickelt, um Arbeitsplätze wie den OP-Saal gesünder zu machen. Chirurgen tragen das Exoskelett dazu einfach wie einen Rucksack. Ein Seilzug leitet das Gewicht der erhobenen Arme auf die Hüfte ab. Das funktioniert ganz ohne Strom, wodurch der „Rucksack“ mit unter zwei Kilo das leichteste Exoskelett seiner Art ist. Das Design orientiert sich an natürlichen menschlichen Bewegungen, wodurch die Ärzte ganz normal gehen, sitzen und Instrumente greifen können.
Gibt es schon Chirurginnen oder Chirurgen, die das Exoskelett in der Praxis einsetzen?
Rössing: Ja, schon seit Frühjahr 2020. Chirurginnen und Chirurgen nutzen das Paexo Shoulder in Kliniken in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden. Immer mehr Operationssäle werden damit ausgestattet.
Wie sind die bisherigen Rückmeldungen?
Rössing: Wir haben bisher nur gutes Feedback von den Ärztinnen und Ärzten zurückgespielt bekommen. Ein Beispiel ist der Klinikdirektor der Neurochirurgie der Universitätsmedizin Göttingen, Professor Doktor Veit Rode. Er ist immer auf der Suche nach neuen Ideen, um die Ergonomie in seinem Operationssaal zu verbessern. Seit Anfang 2020 testet er das Exoskelett bei mikrochirurgischen Operationen. Er sagte uns, dass seine Arm- und Schultermuskeln weniger ermüden und er längere Operationen mit gleichbleibender Präzision durchführen kann. Das hat uns natürlich gefreut.
Kann das Exoskelett auch in anderen medizinischen Sparten oder Berufen zum Einsatz kommen?
Rössing: Unsere Exoskelette kommen auch in der Logistik zum Einsatz, wo die Mitarbeiter schwere Pakete heben. Dort ist es allerdings eher das Paexo Back. Außerdem tragen immer mehr Industriearbeiter Exoskelette, die zum Beispiel in der Autoproduktion über Stunden die gleichen Handgriffe tätigen. Bauarbeiter und Maler profitieren auch davon, besonders bei Überkopf-Arbeiten.
Dr. Rössing, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.