Menschliches Versagen – und jetzt?

Mit HOP gegen Arbeitsunfälle

Die Ausgabe 6/2023 der PRÄVENTION AKTUELL stand ganz im Zeichen der Präventionskultur. ­­Dabei haben wir das Konzept Human and Organizational Performance (HOP) grob skizziert. Arbeitsschützer Dr. Matthias Parey erklärt in diesem Fachbeitrag nun, warum HOP aus seiner Sicht das beste Instrument ist, um die Arbeitswelt sicherer zu gestalten.

Text: Matthias Parey

Technische Systeme, die uns bei der Arbeit schützen sollen, werden immer ausgeklügelter. Trotzdem passieren immer noch Unfälle. Nicht selten liegt dann die Schlussfolgerung nahe, dass die Ursache von unerwünschten Ereignissen und Arbeitsunfällen beim Menschen zu suchen ist. Dabei besteht jedoch die Gefahr, Fehlverhalten zu sanktionieren, sei es durch Schuldzuweisungen, unnötige Nachschulungen oder gar Abmahnungen.

Die Folgen: Fehler werden verschwiegen, Kennzahlen werden manipuliert, (dieselben) Unfälle passieren immer wieder, eine kulturelle Negativspirale setzt sich in Gang. Die kontinuierliche Verbesserung des Arbeitsschutzes wird damit nahezu unmöglich und eine gesunde Unternehmenskultur, in der Sicherheit eine wichtige Rolle spielt, wird im Keim erstickt.

HOP bietet ein Gegengewicht zu dieser Sichtweise und befasst sich wissenschaftlich fundiert mit der Art und Weise, wie menschliches Verhalten, organisatorische Systeme und Technologie zusammenwirken. Das Ziel ist es, dieses Zusammenwirken zu verstehen und die da­raus resultierenden Risiken zu bekämpfen, bevor es zu unerwünschten Ereignissen oder Arbeitsunfällen kommt. Dazu braucht es mehr als nur die klassischen Tools zur Ereignisanalyse oder Gefährdungsbeurteilung. Und es braucht vor allem eines: die Beschäftigten als Experten – nicht als Übeltäter.

AUF DEN PUNKT

  • HOP-Grundannahme: Menschliche Fehler lassen sich nicht zu 100 Prozent vermeiden
  • Arbeitssicherheit lässt sich nur in der Betrachtung des Zusammenspiels von menschlichem Verhalten, organisatorischen und technischen Prozessen verbessern
  • Offene Kommunikation ohne Schuldzuweisung und gelebte Fehlerkultur führen zu lernenden, sichereren Organisationen

Ursprung und Entwicklung von HOP

Die Entwicklung von HOP geht zurück auf die Erforschung der Human Performance (HP) in der Luftfahrt- und Kernkraftindustrie. Dabei wurde nach Gründen für menschliches Versagen bei Zwischenfällen und technischen Katastrophen gesucht. Ergebnis: Meist war es nicht ein einzelner Mensch, der für das Unglück verantwortlich war. Die vermeintlich Verantwortlichen waren nur die Auslöser und das letzte Glied in einer Ereigniskette, bei der es immer auch organisatorische Ursachen gab. Um dem gerecht zu werden und den Fokus von den menschlichen Fähigkeiten und Limitierungen zu nehmen, wurde der Begriff zu Human and Organizational Performance (HOP) weiterentwickelt. Mit dieser offensichtlichen He­raus­stellung des organisatorischen Einflusses markierte HOP einen Paradigmenwechsel in der Untersuchung von Ereignissen und in der Risikobewertung sozio-technischer Systeme.

Heute findet HOP Anwendung in verschiedenen Branchen weltweit, vom Energiesektor über die Petrochemie und produzierende Branchen bis hin zum Gesundheitswesen. Es handelt sich insofern um einen hoch adaptiven Ansatz, der auch den sich wandelnden Anforderungen moderner Organisationen gerecht wird. Damit ist HOP nunmehr auch in Deutschland angekommen und präsentiert sich nicht nur als Denkrahmen zur Vermeidung von Unfällen, sondern auch als Motor für kontinuierliche Verbesserung und eine positive Sicherheitskultur.

Die fünf HOP-Prinzipien

Die HOP-Philosophie basiert auf fünf grundlegenden Prinzipien.

Prinzip 1: Menschen machen Fehler
HOP akzeptiert menschliche Fehler als natürliche Gegebenheit. Es erkennt an, dass trotz bester Absichten Fehler manchmal unvermeidbar sind und es darauf ankommt, aus ihnen zu lernen und ihre Konsequenzen abzumildern. Wir brauchen also fehlertolerante Systeme und Prozesse, in denen sich Fehler nicht zu einem Unfall oder Schaden entwickeln können!

Prinzip 2: Schuldzuweisungen bringen nichts
HOP vermeidet Schuldzuweisungen. Anstatt einzelne Personen für Fehler verantwortlich zu machen, konzentriert es sich darauf, die tie­fer liegenden Gründe für Fehler zu verstehen und präventive Maßnahmen zu entwickeln. Die zentrale Fragestellung lautet: Durch welche Umstände und begünstigenden Faktoren erachtet die Person ihre (Fehl-)Entscheidung oder Handlung in dem Moment als sinnvoll?

Prinzip 3: Der Kontext bestimmt das Verhalten
HOP berücksichtigt den Einfluss des Arbeitsumfelds und der Organisation auf menschliches Verhalten. Es analysiert nicht nur das Verhalten der an einem Ereignis beteiligten Beschäftigten isoliert, sondern betrachtet es im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen und organisatorischen Faktoren im Gesamtkontext. Mit HOP hinterfragen wir bei einem Ereignis also insbesondere, ob unter den gegebenen Umständen zum gegebenen Zeitpunkt und mit den vorliegenden Informationen auch andere Menschen genau so hätten handeln können.

Prinzip 4: Lernen ist (überlebens-)wichtig
In einer sich ständig verändernden Arbeitswelt ist Anpassungsfähigkeit entscheidend. Hier bringt HOP das Konzept des kontinuierli-chen Lernens ins Spiel. Fehler werden als Chancen betrachtet, zu lernen und sich zu verbessern. HOP betont dabei nicht nur die lebenswichtige Rolle des Lernens aus unerwünschten Ereignissen, sondern befasst sich mit den täglichen Herausforderungen der Arbeit, um daraus mögliche negative Auswirkungen zu antizipieren. Es fördert damit eine Kultur des kontinuierlichen Lernens, um zukünftige Vorfälle zu vermeiden und die Organisation widerstandsfähiger zu machen.

Prinzip 5: Die Reaktion auf Fehler ist entscheidend
Die Reaktion auf Fehler und Vorfälle kann den entscheidenden Unterschied machen. Statt in die Schuldfrage zu verfallen, geht es um eine proaktive, lernorientierte Herangehensweise. Das fördert nicht nur eine positive Fehlerkultur, sondern führt zu nachhaltigen Verbesserungen. Die Erfahrung zeigt: Wenn wir Fehlhandlungen bestrafen, verhindern wir diese nicht, sondern sorgen dafür, dass sie uns künftig verschwiegen werden. Ehrlich gelebte Offenheit und Lernbereitschaft auf allen Hierarchieebenen ist eine Grundvoraussetzung, um Fehler frei ansprechen und aus ihnen lernen zu können.

Mit HOP zur lernenden Organisation

Ein zentrales Element von HOP ist das Lernen von der alltäglichen Arbeit. Der Gedanke dahinter: Man muss nicht erst auf einen Unfall warten, um die Schwachstellen im System zu finden. So wendet HOP Werkzeuge und Kommunikationstechniken an, mit denen Fehlerfallen systematisch aufgespürt und mit den richtigen Risikomanagement-Werkzeugen unwirksam gemacht werden können.

Da Menschen eben Fehler machen und ihr Verhalten stets durch den Kontext bestimmt wird, ist es keineswegs zielführend, sie weiterhin in unsere technisch und organisatorisch vermeintlich perfekten Systeme pressen zu wollen und jede Abweichung als Verstoß oder Schwäche zu betrachten. Im Gegenteil: Der Mensch ist in der Lage, schnell und zielorientiert komplexe Sachverhalte zu erschließen und auf Veränderungen mit einer möglichst zielführenden Handlung zu reagieren. Das geht in den allermeisten Fällen auch gut und ist nichts weiter als die ganz normale Arbeit, wie wir sie von den Beschäftigten erwarten.

Das Modell von Sidney Dekker (siehe Abbildung „The Field Guide to Understanding Human Error“, 2007) veranschaulicht die Diskrepanz zwischen der geplanten und dann tatsächlich ausgeführten Arbeit. In der Grafik stellt die schwarze Linie die Anforderungen an die Arbeitsausführung dar, wie sie beispielsweise in Betriebsanweisungen festgeschrieben sind. Die Annahme ist: Halten sich die Beschäftigten konstant an diese Vorgaben, werden sie ihre Arbeit – eben wie geplant – sicher ausführen. Die blaue Linie zeigt die Arbeit, wie sie die Beschäftigten dann tatsächlich ausführen.

Abbildung: „The Field Guide to Understanding Human Error“, 2007. Grafische Darstellung: Liebchen+Liebchen GmbH

Die schwarze und blaue Linie weichen voneinander um die Drift ab. Die Drift beschreibt sämtliche Abweichungen von der Soll-Vorgabe, also von der Planung. Drift entsteht immer dann, wenn Beschäftigte einen vermeintlich sinnvolleren oder einfacheren Weg finden, ihre Arbeitsaufgabe zu erledigen, wenn die Prozessbeschreibung fehlerhaft oder unvollständig ist oder wenn unerwartete Ereignisse auftreten – wenn es also Probleme gibt, die die Beschäftigten lösen müssen. In manchen Fällen ist hierdurch eine Verringerung, in manch anderem Fall aber sogar eine Erhöhung des Sicherheitsniveaus erwartbar, denn nicht alle Entscheidungen von Beschäftigten gehen zwangsläufig mit Unsicherheit einher. Manche von ihnen liefern sogar Best Practices (grüner Stern), mit denen bessere und sicherere Ergebnisse erzielt werden können.

Normalerweise fällt die Drift nicht auf, solange das erwartete Ergebnis erzielt wird (weißer Stern). Dies ändert sich erst, wenn ein signifikantes Ereignis auftritt. Dies können (Qualitäts-)Probleme (gelber Stern), Beinahe-Unfälle (orangefarbener Stern) oder auch Unfälle (roter Stern) sein. Sie legen offen, was sich bis dahin stillschweigend etabliert hat, wenngleich nicht zwangsweise jede vom Plan abweichende Handlung auch einen Beitrag zum negativen Ereignis geleistet haben muss. Denn: Auch die Gefährdungen (rote Linie) sind in einem Arbeitssystem nicht so konstant, wie wir es bei der Arbeitsplanung und Durchführung der Gefährdungsbeurteilung oft festschreiben. Unentdeckte Systemfehler, eine falsche Programmierung, nicht entdeckte oder neu hinzugekommene Gefährdungen, defekte Schutzeinrichtungen oder manchmal auch einfach nur das Wetter oder ein krankheitsbedingter Ausfall eines Kollegen können schon zu einem Erstarken der Gefährdungen im Arbeitssystem führen.

In dieser komplexen Gemengelage aus Bedingungen, Handlungen und deren Variabilität schützt uns der Fehlerspielraum – also der Abstand von blauer und roter Linie – regelmäßig vor negativen Auswirkungen. Der Fehlerspielraum vergrößert sich, wenn verschiedenartige Schutzmaßnahmen, die nicht voneinander abhängig sind, implementiert ­wurden. Vor dem Hintergrund, dass menschliche Fehler unvermeidbar sind, sind hier insbesondere solche Maßnahmen gefragt, die vorhersehbare Handlungen der blauen Linie kompensieren können. Aber auch technische und organisatorische Maßnahmen finden hier ihren gewohnten Platz.

Die Bedingungen, unter denen Unfälle passieren, sind meist gar nicht so selten und einzigartig, wie es in der Interpretation von Unfallhergängen scheint. Es besteht nur ein schmaler Grat zwischen Tagen, an denen Dinge schieflaufen, und Tagen, an denen alles glattgeht. Beschäftigte sollten daher regelmäßig nach ihren Praktiken, Erfahrungen und Arbeitserschwernissen befragt werden. Dadurch können Unternehmen frühzeitig Risiken erkennen, noch bevor ein unerwünschtes Ereignis eintritt.

FAZIT
HOP ist nicht nur eine wirksame Denkweise, um Unfälle oder deren Wiederholung zu verhindern, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zu einer respektvollen Unternehmenskultur, die insbesondere durch den offenen Umgang mit ­Fehlern, eine wertschätzende Kommunikation und organisationale Lernprozesse geprägt ist. Insgesamt bietet die HOP-Philosophie einen systematischen Ansatz zur Bewertung und Verbesserung der Sicherheit sowie der Arbeitsbedingungen insgesamt. Dies führt zu einer Verringerung von Zwischenfällen und Unfällen, einer Verbesserung der Sicherheitskultur und letztlich zu einer Steigerung der Produktivität. Arbeitsschutz ist damit kein reiner Selbstzweck, sondern eine wichtige Stütze des Unternehmenserfolgs.

DER AUTOR:
Erste Erfahrungen mit HOP sammelte Matthias Parey im Jahr 2018 als EHS-Manager und leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) bei einem US-Konzern. Seither befasst er sich mit der praktischen Umsetzung von HOP im deutschen Arbeitsschutz. Seine Erfahrungen und das Wissen über HOP gibt der Sicherheits- und Brandschutzingenieur heute im gesamten deutschsprachigen Raum als selbstständiger Trainer, Mentor und Berater weiter. Vor allem mit (Online-)Trainings, Workshops und strategischer Beratung unterstützt er die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes und der Sicherheitskultur mit HOP. www.matthiasparey.com