Schöne neue Arbeitswelt?

Arbeit 4.0 ist keine Zukunftsvision mehr, sondern in der Gegenwart angekommen. Immer mehr Beschäftigte erledigen ihre Aufgaben digital und vernetzt, örtlich und zeitlich flexibel. Wie bewertet der VDSI – Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit e. V. diese ­Entwicklung? Ein Gespräch mit den Vorstandsmitgliedern des VDSI Dr. Klaus Große und Katrin Zittlau.

Chance oder Risiko: Wie schätzt der VDSI die neue Arbeitswelt 4.0 ein?

Dr. Klaus Große: Chancen und Risiken steigen. Die technischen Möglichkeiten der Arbeitswelt 4.0 steigern die Ambivalenz der Arbeitsgestaltung. Die neuen Technologien bieten beispielsweise die Chance, dass physische Belastungen für den Beschäftigten sinken, besonders gefährliche Tätigkeiten durch autonome Systeme substituiert werden oder unabhängig von Ort und Zeit gearbeitet werden kann.

Katrin Zittlau: Durch diese Flexibilisierung der Arbeit, Fremdsteuerung und Überwachung, Informationsflut oder Technostress können gleichzeitig die psychischen Belastungen zunehmen. Unverändert bleiben Ergonomie, Usability, die Gestaltung alter(n)sgerechter Arbeit oder andere traditionelle Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wichtige Ziele für sichere und gesundheitsgerechte Arbeitsplätze – wenn sie auch teilweise an die neuen Arbeitsbedingungen angepasst und weiterentwickelt werden müssen.

Portraitfoto Dr. Klaus Große Vorstand Ressort Gesundheit, VDSI.
Dr. Klaus Große, Vorstand Ressort Gesundheit, VDSI. Foto: VDSI e. V.

Wie viele Beschäftigte werden zukünftig im Sinne der Arbeit 4.0 tätig sein?

Große: Im Grunde fast alle Beschäftigten, denn Arbeit 4.0 lässt sich nicht eindeutig abgrenzen. Es geht nicht nur um vollautonome Prozesse mit Einsatz von KI, also künstlicher Intelligenz, sondern beginnt zum Beispiel schon bei der Nutzung von Smartphones oder der Arbeitsplanung.

„DIE ROLLE DER SIFA GEWINNT AN BEDEUTUNG, WEIL NEULAND IN DER ARBEITSWELT BETRETEN WIRD, IN DEM DIE UNTERNEHMER NICHT WISSEN, WELCHE GESUNDHEITLICHEN CHANCEN UND RISIKEN AUF DIE BESCHÄFTIGTEN ZUKOMMEN.“ (DR. KLAUS GROSSE)

Wie weit ist diese Transformation bei den Unter­nehmen in Deutschland fortgeschritten?

Zittlau: Der Veränderungsprozess beginnt bereits im Kleinen: dort, wo beispielsweise Apps auf Smartphones und Tablets genutzt werden. Unternehmen setzen neue Technologien ein oder entwickeln sie in diesen Bereichen, um sich zukunftssicher aufzustellen. Treiber ist in der Regel auch immer die Wirtschaftlichkeit. Interessant ist die Frage, ob immer mitgedacht wird, welche Auswirkungen die Neuerungen und Veränderungen auf die Beschäftigten haben. Zudem spielt der Datenschutz eine wichtige Rolle, der als sperrig empfunden wird.

„WEIL BESCHÄFTIGTE HÄUFIG MOBIL ARBEITEN, UNABHÄNGIG VON ORT UND ZEIT, SIND SIE FÜR FACHKRÄFTE FÜR ARBEITSSICHERHEIT SCHWIERIGER ZU ERREICHEN.“ (KATRIN ZITTLAU)

Portraitfoto Katrin Zittlau Stellvertretendes Mitglied im Vorstand für „Digitale Transformation – Arbeitswelten im Wandel“, VDSI
Katrin Zittlau, stellvertretendes Mitglied im Vorstand für „Digitale Transformation – Arbeitswelten im Wandel“, VDSI. Foto: VDSI e. V.

Stichwort „Prävention 4.0“: Kommen auf den Arbeitsschutz neue Aufgaben zu?

Große: Die Aufgaben verändern sich im Wesentlichen nicht. Relevant ist die Auseinandersetzung mit neuen Technologien und veränderten Arbeitsorganisationen und mit Gefährdungen und Belastungen, die damit verknüpft sind. Bewährte Methoden wie beispielsweise die Gefährdungsbeurteilung helfen auch in Zukunft, die Arbeit sicher und gesund zu gestalten.

Wie kann ein Unternehmen seine digitale Transformation mit Blick auf die Prävention optimal begleiten?

Zittlau: Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss mitgedacht werden. Neue Verfahren und Arbeitsmittel vorzusehen und sich dann erst mit deren Gefährdungen auseinanderzusetzen, funktioniert nicht oder wird sehr kostspielig, wenn beispielsweise Software verändert werden muss. Es ist immer sinnvoll, die Akteure des Arbeitsschutzes frühzeitig einzubinden und sich mit vorhandenen Hilfsmitteln – zum Beispiel seitens der Offensive Mittelstand oder des VDSI – sowie aktuellen Erkenntnissen auseinanderzusetzen.

5.600 FACHLEUTE, EIN ZIEL

Der VDSI – Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit e. V. ist deutschlandweit der größte Fachverband in diesem Bereich. Er wurde 1951 als Arbeitsgemeinschaft der Sicherheitsingenieure gegründet und ist gemeinnützig, politisch sowie wirtschaftlich unabhängig. Heute hat der VDSI rund 5.600 Mitglieder, die sich ehrenamtlich für eine sichere und gesunde Arbeitswelt engagieren – beispielsweise Ingenieure, Techniker, Manager, Mediziner, Psychologen, Chemiker, Umweltbeauftragte und Fachleute aus anderen Berufsgruppen. Der VDSI versteht sich in seinem Themenfeld als Ansprechpartner für alle gesellschaftlichen Gruppen und hat sich zum Ziel gesetzt, Gefahren und Belastungen für Mensch und Umwelt bei der Arbeit nachhaltig zu reduzieren und diese Werte im Verhalten der Beschäftigten dauerhaft zu verankern.

Mehr Informationen: www.vdsi.de

Verändert sich die Rolle der Fachkraft für Arbeitssicherheit durch die zunehmende Vernetzung und Digitalisierung?

Große: Der VDSI hat schon vor einiger Zeit beschrieben, wie sich das Rollenbild der Fachkraft für Arbeitssicherheit weg von der „Fachkraft“ hin zum Manager für Sicherheit und Gesundheit entwickelt. Die Sifa ist häufig erster Ansprechpartner für das Thema im Betrieb und kann daher als fachlicher Berater alle weiteren Beteiligten und Professionen einbinden und koordinieren.

Zittlau: Bedingt durch innovative Technologien und veränderte Arbeitsorganisationen muss die Sifa sich mit Neuem auseinandersetzen. Das sind fachliche Themen, wie zum Beispiel, welche Aspekte der Sicherheit und Gesundheit bei der Entwicklung oder Beschaffung der 4.0-Systeme wesentlich sind, aber auch Kenntnisse über emotionale Fertigkeiten, Motivationsaspekte und erforderliche Kompetenzen der Beschäftigten.

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Illustration: shutterstock.com/Hurca

Bei der Planung, der Installation und schließlich der „neuen“ Alltagsarbeit unter 4.0-Bedingungen: Wann und wie muss die Sifa eingebunden werden?

Große: Im Rahmen von 4.0-Prozessen spielt die Software, deren Ergonomie, Störanfälligkeit, Benutzungs- und Benutzersicherheit der eingerichteten Systeme eine zunehmend zentrale Rolle in der Prozessgestaltung. Prävention durch die Fachkräfte für Arbeitssicherheit wird hier ansetzen müssen. Diese beraten Unternehmen dahingehend, dass sie bei der Entwicklung der Software Sicherheit und Gesundheit in den Algorithmen berücksichtigen. ­
Beide Aspekte müssen frühzeitig in die Planung, Konzeption, Entwicklung oder Beschaffung von 4.0-Systemen integriert werden.

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Illustration: shutterstock.com/Hurca

Was sind die größten Hürden auf dem Weg zu einer wirksamen Prävention 4.0?

Zittlau: Wir müssen verstehen, dass Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht losgelöst von allen anderen Prozessen im Betrieb ablaufen kann. Arbeits- und Gesundheitsschutz ist dort am wirksamsten, wo Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten von vornherein mitgedacht werden. Das müssen die Unternehmensleitungen, aber auch die Fachkräfte für Arbeitssicherheit verstehen und verinnerlichen.

Große: Und wir dürfen nicht vergessen, dass weitere Akteure im Betrieb beraten, zum Beispiel Arbeits- und Organisationspsychologen sowie die Präventionsberater der Krankenkassen. Nach unserer Auffassung benötigen wir hier eine Vernetzung, einen gemeinsamen Zugang und eine gemeinsame Arbeit im Betrieb, damit Sicherheit und Gesundheit auch in der Arbeitswelt 4.0 bestmöglich gelingen kann.

Der Begriff Clickworker bezeichnet Internetnutzer, die gemäß dem Prinzip des Paid Crowdsourcing freiberuflich und meist nebenbei kleine Aufträge erledigen. Clickworker und Unternehmen, die Arbeitsaufträge vergeben möchten, vernetzen sich über spezielle Crowdsourcing-Plattformen.

Wo stößt die präventive Tätigkeit in der neuen Arbeitswelt an Grenzen?

Zittlau: Soloselbstständige sind nicht für den Arbeitsschutz erreichbar. Crowd- und Clickworker, die in verschiedenen Branchen zunehmend beschäftigt werden, sind in der Regel über Honorarverhältnisse gebunden. Für deren Sicherheit und Gesundheit sind Auftraggeber formal nicht zuständig. Hinzu kommt die Flexibilisierung der Arbeit. Weil Beschäftigte häufig mobil arbeiten, unabhängig von Ort und Zeit, sind sie schwieriger für Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu erreichen. Hier braucht es neue Konzepte, die auf Aufklärung, Sensibilisierung und Selbstorganisation basieren.

Ein Blick in die Zukunft: Verliert die Sifa durch die 4.0-Prozesse an Bedeutung – oder wird ihre Aufgabe sogar noch wichtiger?

Große: Die Rolle der Fachkraft für Arbeitssicherheit gewinnt an Bedeutung, weil unter anderem Neuland in der Arbeitswelt betreten wird, in dem die Unternehmer nicht wissen, welche gesundheitlichen Chancen und Risiken auf die Beschäftigten zukommen. Deshalb müssen Sifas Erfahrungen und Erkenntnisse in der Arbeitswelt 4.0 sammeln und in die Beratung einbringen.

Schöne neue Arbeitswelt?
Grafik: Liebchen+Liebchen GmbH

Text: Stefan Layh