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„The New Normal“ in digitalen Zeiten
Der Arbeits- und Gesundheitsschutz fokussierte sich jahrzehntelang auf die körperlich oder handwerklich arbeitenden Menschen. Im Zuge der Digitalisierung und spätestens seit Corona hat ein Umdenken stattgefunden: Arbeits- und Gesundheitsschutz 4.0 wird nun als Instrument einer gesunden Personal- und Behördenkultur in Büros und im Homeoffice gesehen.
Text: Christina Wiebelitz-Spangenberg
Projekte für selbstbestimmtes, agiles Arbeiten (New Work) nehmen zu. Auch Desksharing, Arbeiten in Co-Working-Spaces bis hin zu Workation – also dem Verlegen der Arbeit an einen Urlaubsort – etablieren sich. Um Fachkräfte für Bürotätigkeiten in Unternehmen oder Behörden zu gewinnen, sind auch nach der Corona-Pandemie mobiles Arbeiten und flexible Arbeitszeiten wichtig – wenngleich viele Arbeitgeber dazu neigen, die Beschäftigten wieder vollständig in die Präsenz zu holen, anstatt nach interessensorientierten, differenzierten Lösungen zu suchen.
Mit einem alternierenden Arbeiten im Homeoffice kann zuweilen als Ergebnis des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) sogar eine Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit leichter umgesetzt werden als beim Bestehen auf Präsenz im Betrieb. Damit leistet das mobile Arbeiten einen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, der in vielen Branchen herrscht.
AUF DEN PUNKT
- Bedeutung der psychischen Belastungen nimmt zu
- Verbindliche gesetzliche Regelung zur Arbeit im Homeoffice fehlt
- Arbeitszeit spielt bei der Gefährdungsbeurteilung eine größere Rolle
Krankenstand steigt auf Rekordniveau
Alle Beschäftigten, egal wie alt, belastbar oder gesund sie sind, wollen mit ihren Bedürfnissen gesehen und ernst genommen werden. Andernfalls schlägt sich dies in der Krankheitsquote nieder: Der Krankenstand jedenfalls hat im ersten Halbjahr 2023 ein Rekordniveau erreicht – obwohl die Corona-Pandemie überwunden zu sein scheint. Die DAK veröffentlichte jüngst in ihrer Halbjahresstatistik einen Wert von 5,5 Prozent und damit den höchsten seit Beginn dieser Erhebung im Jahr 2013.
Die Etablierung einer gesunden Personal- und Unternehmenskultur sollte also schon aus Eigeninteresse des Betriebs oder der Behörde eine wichtige Rolle spielen. Arbeitszufriedenheit hängt dabei nicht nur von einer sicheren Entlohnung ab, sondern auch von anderen Rahmenbedingungen rund um Arbeitszeit, technische Ausstattung, Kommunikation und Arbeitsinhalte. Aktuell muss der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung eine große Bedeutung beigemessen werden – obwohl sie ja ohnehin im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) geregelt und damit gesetzlich verpflichtend ist. Aber Probleme in den Digitalisierungsprozessen, die Arbeitsverdichtung (unter anderem durch krankheitsbedingte Ausfälle) und andere Umstände wie die zunehmende Gesetzesdichte rücken die psychischen Belastungen verstärkt in den Fokus.
Inzwischen gibt es in vielen Unternehmen Mitarbeiter, die dabei sind, ein betriebliches beziehungsweise behördliches Gesundheitsmanagement (BGM) aufzubauen, oder es bereits etabliert haben. Nicht selten kämpfen sie gegen Windmühlen oder sie werden gar für ihr Engagement belächelt. Häufig fehlt es – allen Beteiligten – an dem Verständnis um die rechtlichen Rahmenbedingungen, nach denen insbesondere die Führungskräfte in der Pflicht sind, um gemeinsame Standards zu entwickeln und vorzuleben.
Klar ist: Kein Arbeitgeber kann daran interessiert sein, dass zum Beispiel ein Mitarbeiter ohne weitere Hilfsmittel vor einem kleinen Laptop am Küchentisch sitzt und dann wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen ausfällt. Da sind die sechs Wochen Entgeltfortzahlung schnell erreicht. Ähnliches gilt bei psychischen Erkrankungen. Insofern ist es eine „Milchmädchenrechnung“ und zeugt von geringer Wertschätzung den Beschäftigten gegenüber, nur wenig in den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu investieren.
Arbeitsschutz und Unternehmenskultur hängen zusammen
Der Umgang von Arbeitgebern mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz ist sehr unterschiedlich. In einigen Betriebs- und Dienstvereinbarungen wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz als Einzeiler und mit dem Hinweis abgehandelt, dass man sich daran zu halten habe. In anderen gibt es konkretere Beschreibungen bis hin zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen. Hier lässt sich oft schon aus den Vereinbarungen die Personal- und Unternehmenskultur herauslesen.
Etwaige Unsicherheiten hängen teilweise auch damit zusammen, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Waren während der Pandemie Definitionen von mobilem Arbeiten und Homeoffice in den spezifischen Arbeitsschutzregeln hinterlegt, sucht man nach der Pandemie vergebens danach. Eine verbindliche gesetzliche Regelung zur Arbeit im Homeoffice fehlt. Bisher ist es beim zweiten Entwurf des Gesetzes zur mobilen Arbeit (MAG) mit Stand Januar 2021 geblieben. Arbeitsminister Hubertus Heil ließ im Zusammenhang mit der Reform des § 16 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) aber durchblicken, das MAG wieder auf die Agenda zu nehmen.
Hilfen bei der GBU
Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA), die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften haben umfangreiche Hilfestellungen bis hin zur Erstellung der digitalen Gefährdungsbeurteilung (GBU 4.0) im Programm. Auch der Universum Verlag bietet mit dem EHS Software Suite1 die Möglichkeit, online Gefährdungsbeurteilungen anzufertigen und Mitarbeiterunterweisungen zu gestalten.
Klare Regelungen nur für Telearbeit
Allein für die Telearbeit ist die Gefährdungsbeurteilung ausdrücklich aufgeführt in § 3 der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), der wiederum § 5 ArbSchG konkretisiert. Weder im Gesetz noch in der Verordnung findet sich die ausdrückliche Verknüpfung von mobilem Arbeiten/Homeoffice mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz. Und so ist weiterhin strittig, ob der Anhang Nr. 6 ArbStättV „Maßnahmen zur Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen“ generell auch für Bildschirmarbeitsplätze im Homeoffice Anwendung findet. Relevant dürfte hier jedoch sein, dass die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) empfiehlt, die Vorgaben der ArbStättV auch im Homeoffice zu beachten, wenngleich auch abhängig von der konkreten Aufgabe.2 Einigkeit besteht nur insofern, als dass der Arbeitgeber die Regelungen des Arbeitsschutzgesetzes (sowie des Arbeitszeitgesetzes) zu beachten hat, soweit er Beschäftigte verpflichtet, beauftragt oder es ihnen ermöglicht, bestimmte Aufgaben mobil zu erledigen.3
Die Pflichten nach der Betriebssicherheitsverordnung und damit eine eigene Gefährdungsbeurteilung nach § 3 Abs. 2 BetrSichV bleiben. Wobei auch hier die Eignung, die ergonomische und altersgerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes im Fokus stehen. Am Ende greift auch die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV), die einen Anspruch auf Untersuchung der Augen vorsieht, und dies ebenso für Bildschirmtätigkeiten im Homeoffice.
Bedeutung der Arbeitszeit
Inzwischen spielt auch die Arbeitszeit beziehungsweise die Rahmenbedingungen bei der Gefährdungsbeurteilung (nach § 5 Abs. 3 Nr. 4 und als Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung nach § 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG) eine zentrale Rolle. Derzeit liegt aber nur der Referentenentwurf zur Neufassung des ArbZG vom 18. April 2023 vor, der wegen der fehlenden Flexibilisierung etwa bei den Ruhezeiten kritisiert wird.
Bei ortsflexiblem Arbeiten geht es sowohl um zeitliche Flexibilität als auch um Gefahren der Entgrenzung und psychischen Erschöpfung. So können zum Beispiel Mitarbeiter, die psychisch und/oder körperlich angeschlagen sind und dennoch weiterarbeiten, für Unternehmen zu einem Problem werden – wenn sie mittel- bis langfristig aufgrund der zu hohen Belastungen ausfallen.
Im Zusammenhang mit Arbeiten 4.0 ist der aktuelle Stand, dass die Dokumentation der Arbeitszeit weiterhin an die Beschäftigten selbst delegiert werden kann. Auch Vertrauensarbeitszeit soll weiterhin möglich sein, sofern das Erfassungssystem einen Regelverstoß meldet. Der neue § 16 ArbZG-E setzt sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von 2019 als auch den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts von 2022 zur Arbeitszeiterfassung um – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Zeit wurde indes nicht genutzt, um das ArbZG grundsätzlich zu reformieren. Gestaltungsspielräume liegen weiterhin bei den Tarifvertragsparteien.
DIE AUTORIN
Die Schwerpunkte der Rechtsanwältin Christina Wiebelitz-Spangenberg liegen im Arbeits- und Gesundheitsrecht. Die Betriebswirtin und langjährige Unternehmensjuristin ist als Datenschutzbeauftragte, NLP-Master (DVNLP), Mediatorin im Arbeitsrecht und Online-Trainerin tätig. Sie berät kleine und mittlere Unternehmen sowie Betriebsräte und schult Führungskräfte, Betriebs- und Personalräte. Ihr Leitbild ist das „Gesunde Arbeitsrecht“, unter dem sie auch firmiert: www.gesundes-arbeitsrecht.com.
In diesem Jahr wird sie in Kooperation mit Academa einen Online-Kurs für die Verwaltung mit dem Titel „Arbeits- und Gesundheitsschutz 4.0, The New Normal – Arbeiten in der öffentlichen Verwaltung in digitalen Zeiten“ veranstalten.
www.academa.de
1 www.uv-ehs.de
2 https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3925
3 Siehe z. B. S. 20 der Leitlinien zur Arbeitsstättenverordnung LV 40