Ein neues Verständnis der psychischen Gefährdungsbeurteilung

Psychische Erkrankungen führen in Deutschland zu immer mehr Fehltagen am Arbeitsplatz. Doch warum verschlechtert sich die Situation in diesem Bereich immer weiter und warum zeigen Maßnahmen wie die psychische Gefährdungsbeurteilung kaum positive Veränderungen?

Quelle: DAK / CaaS

Die immer weiter steigende Zahl von Fehltagen wegen psychischer Diagnose ist ein starkes Indiz für eine weiterhin ungebremste Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in Deutschland. So hat sich die Zahl der gemeldeten Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) mit psychischen Diagnosen – meist Angst- und depressive Störungen – seit 1999 etwa verdreifacht, während die AU-Tage aller anderen Diagnosen kaum Veränderung zeigen (Grafik). Nach neuesten Zahlen der DAK-Gesundheit (Februar 2023) stiegen die Zahlen 2022 noch einmal um 5 Prozent – ein Negativrekord, der Krankenkassen und Organisationen zunehmend beunruhigt.

Diese Entwicklung gibt mehrfach Anlass zur Sorge: Das Leiden durch eine psychische Erkrankung ist groß und beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen langfristig. Für Organisationen, deren Mitarbeiter erkranken, entsteht nicht nur ein unmittelbarer Schaden durch den krankheitsbedingten Ausfall, auch im Vorfeld ist mit einer deutlichen Leistungsminderung zu rechnen.

Um psychischen Beanspruchungen, die durch das Arbeitsverhältnis entstehen, vorzubeugen, hat der Gesetzgeber bereits vor zehn Jahren reagiert und psychische Belastungen als mögliche Gefährdung der Arbeitnehmer in § 5 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) aufgenommen. Seitdem ist eine psychische Gefährdungsbeurteilung (psychGBU) für jede Organisation verpflichtend. Ziel ist es, die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz so zu gestalten, dass diese nicht krank machen.

Aber warum verschlechtern sich die Zahlen der psychisch bedingten AU-Tage weiterhin ungebremst? Und warum haben sich für die Organisationen seit der Einführung der psychGBU kaum positive Veränderungen ergeben?

Bei näherer Betrachtung der aktuellen Praxis gibt es mehrere mögliche Ursachen. Diese resultieren jeweils aus einem fehlerhaften Verständnis der Durchführenden und der Verantwortung der Organisationen selbst.

Fehlendes Verständnis der Durchführenden (externe Anbieter sowie interne Arbeitssicherheitsbeauftragte)

1) Aufwendige Befragungen? Nicht selten werden, gleich als erster Schritt, aufwendige Befragungen aller Mitarbeiter empfohlen. Jede und jeden nach allem zu befragen, kann auf den ersten Blick als gründlich erscheinen, bringt jedoch einige nachteilige Nebenwirkungen mit sich. Durch fehlenden Fokus ist diese Methode sowohl zeit- als auch kostenintensiv. Weiterhin hat diese Variante das Potenzial, erhebliche Irritationen bei den Befragten auszulösen, da die Fragen große Interpretationsspielräume lassen und Erwartungen gegenüber der Organisation schüren. Solche Befragungen sind oft zu breit und detailliert angelegt und die standardisierten Auswertungen können im schlimmsten Fall „Handlungsnotwendigkeiten“ aufwerfen, die bei genauerer Betrachtung weder verpflichtend noch sinnvoll sind. Im Wissen um diese Risiken zögern Verantwortliche zu Recht, eine derart gestaltete psychGBU im Unternehmen überhaupt anzustoßen.

2) Unvollständiger Prozess! Viele Organisationen fokussieren sich auf breit angelegte Erhebungen von Belastungen, sind dann aber mit der richtigen Beurteilung und der Maßnahmenentwicklung überfordert. Viele externe Anbieter lassen die Organisationen nach der Befragung und deren standardisierter Auswertung im Regen stehen. So kommt es seltener zu einer Verbesserung der tatsächlichen Belastungssituation als vielmehr zu einer latenten Verwirrung aller Beteiligten.

Fehlendes Verständnis der Organisationen

In letzter Konsequenz sind nur die Organisationen selbst für eine gesundheitsfördernde Arbeitsbelastung verantwortlich. Auch hier existieren einige Missverständnisse, die die Effektivität der psychGBU beeinträchtigen.

In letzter Konsequenz sind nur die Organisationen selbst für eine gesundheitsfördernde Arbeitsbelastung verantwortlich. Auch hier existieren einige Missverständnisse, die die Effektivität der psychGBU beeinträchtigen.

1) Lückenhafte Durchführung! Mehr als ein Drittel der deutschen Unternehmen haben bis heute noch nie eine psychGBU durchgeführt.

2) Fehlendes Verständnis psychischer Belastungen! Die teilweise komplexen Zusammenhänge von psychischen Belastungen und Beanspruchungen sind vielen nicht bekannt. So fallen tatsächliche Fehlbelastungen nicht auf und bei der Suche nach Ursachen von hohem Krankenstand und Fluktuation werden die wahren Gründe übersehen.

3) Wirksame Maßnahmen? Die Erhebung und Beurteilung von Belastungen sowie die Maßnahmenentwicklung unterscheiden sich erheblich von der Praxis anderer Arbeitssicherheits-Disziplinen. Noch existieren keine bewährten Lösungen. Dadurch haben einige Maßnahmen eher experimentellen Charakter. Nur Personen mit einem Verständnis von psychischen Belastungen können Auswirkungen gut abschätzen und effektive Maßnahmen planen.

4) Reflexion und Empathie der Führungskräfte! Zu den kritischsten und meistgenannten Belastungsfaktoren gehören gestörte soziale Beziehungen, einerseits zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, andererseits teamintern. Hier tragen Führungskräfte eine besondere Verantwortung.

Gerade Führungskräfte sind häufig einer besonders hohen Stressbelastung ausgesetzt. Sie neigen dann oft dazu, den selbst empfundenen Druck an ihre Mitarbeiter weiterzugeben – häufig mit fatalen Auswirkungen: Die psychische Fehlbelastung einzelner Führungskräfte überträgt sich so auf ganze Abteilungen oder sogar die gesamte Organisation.

Die soziale Unterstützung durch Kollegen ist ebenso ein wichtiger Faktor. Fehlen wechselseitige Hilfe, wertschätzender Austausch, emotionale Unterstützung durch Vertrauen und Anteilnahme, konstruktives Feedback und auch gesellige Aktivitäten in der Gruppe, ist eine negative psychische Belastung der Team-Mitglieder sehr wahrscheinlich. Fehlt Führungskräften das Gespür für die Stimmung im Team oder die Fähigkeit, positiv auf die Team-Dynamik einzuwirken, so lassen sich Missstände im Team kaum abstellen.

Diese sicher nicht abschließende Sammlung möglicher Missverständnisse als Gründe für die bislang geringe Wirkung der psychGBU birgt für Organisationen die Chance, aus vermeidbaren Fehlern zu lernen und so über die psychGBU einen nachhaltigen Schutz ihrer Mitarbeiter zu realisieren.

Denn richtig angewendet ist die psychGBU ein sinnvolles und wirksames Mittel im Kampf gegen steigende psychische Belastungen, die damit einhergehenden Erkrankungen und resultierenden Produktivitätsausfall.

Richtig angewendet ist die psychGBU ein sinnvolles und wirksames ­Mittel

Für die stimmige, beherrschbare und wirksame Gestaltung der psychGBU bewähren sich folgende Praxistipps:

1) Authentischer Verbesserungswille! Überprüfen Sie als Verantwortlicher Ihre Haltung zum Thema psychische Belastung. Nur wenn Sie authentisch an einer Verbesserung der Situation interessiert sind, besteht der notwendige Nährboden für eine positive Veränderung wesentlicher Belastungsfaktoren wie Führungsverhalten oder arbeitsorganisatorischer Rahmenbedingungen.

2) Klare Zielsetzung! Setzen Sie sich klare Ziele, sobald Sie die Situation besser einschätzen können. Überlegen Sie, ob Sie nur gesetzlichen Pflichten nachkommen wollen oder ob Sie darüber hinausgehende Ziele wie beispielsweise Mitarbeiterförderung und Produktivitätssteigerung mit aufnehmen möchten (keine gesetzliche Pflicht).

3) Angemessen konfiguriertes Vorgehen! Gestalten Sie Ihre psychGBU stimmig: Bestimmen Sie frühzeitig die kritischen Bereiche in Ihrer Organisation und nutzen Sie die gesetzlich gegebenen Spielräume für eine angemessene und machbare Taktung der psychGBU-Schritte: Erhebung, Beurteilung und Maßnahmenentwicklung. Stellen Sie ein multidisziplinäres Team aus Kennern der spezifischen Arbeitsstationen und Experten für psychische Belastungen zusammen.

4) Sachgerechte Methodenwahl: Wählen Sie beherrschbare, sachgerechte und nachvollziehbare Methoden für alle Phasen der psychGBU. Nutzen Sie zunächst vorhandene Unterlagen und Erkenntnisse, klare Grenzwerte und Normen sowie qualifizierte Beobachtungen. Befragen Sie nur bei gegebener Kritizität eine breitere Anzahl an Mitarbeitern (z. B. in einer kritisch belasteten Abteilung zum schlecht mess- und beobachtbaren Themen wie „Führungsverhalten“). Ergänzen Sie insbesondere bei Verdacht auf kritische Belastungssituationen auch die optionale (freiwillige) Abfrage des persönlichen Befindens der Beschäftigten, um so gezielt Maßnahmen zu justieren.

5) Nicht im Detail verlieren! Verlieren Sie sich gerade zu Beginn nicht in Details! Betrachten Sie zunächst das Gesamt-Belastungsprofil, über Felder sich wechselseitig verstärkende Belastungsfaktoren, zum Beispiel: Job Demand (Arbeitsintensität) – Job Control (Handlungsspielraum); Führungsverhalten – Team-Support; Job-Anforderungen – Rollenstress; Sicherheit – Sinn. Steuern Sie dort im Detail nach, wo kritische Befunde zu erwarten sind. Die psychGBU lässt ausdrücklich ein iteratives und getaktetes Vorgehen zu.

6) Augenmerk Fokusfaktoren: Achten Sie auf die besonders stark beeinträchtigenden Einzelfaktoren (etwa Führungsverhalten oder zu geringer Handlungsspielraum) und hinterfragen Sie mögliche Multiplikationssituationen, in denen selbst empfundener Druck in der Organisation weitergegeben wird.

7) Verhältnisprävention: Legen Sie besonderen Wert darauf, dass kritische Befunde möglichst an der Wurzel abgestellt werden. Geben Sie Ihrer Organisation die notwendige Zeit und Mittel dafür.

8) Verhaltensprävention: Ergänzen Sie die Maßnahmen zur Veränderung der Verhältnisse auch durch (freiwillige) Angebote zur Verbesserung von Beanspruchungswahrnehmung und persönlichem Gesundheitsverhalten. Gerade bei Führungskräften bieten diese die Chance, die Übertragung kritischer Überbelastung Einzelner auf weitere Teile der Organisation zu unterbinden.

Die psychGBU ist nicht nur ein notwendiges und gesetzlich verpflichtendes Instrument der Arbeitssicherheit. Es bietet Unternehmen auch die Chance, Mitarbeitermotivation und Produktivität deutlich zu verbessern. Wenn Sie in kleinen, machbaren Schritten anfangen, haben Sie gute Aussichten, den Weg zur Gesunderhaltung von Belegschaft und zur Optimierung der Organisation erfolgreich zu gehen.

DIE AUTORIN:

Katja Henge ist als ­Heilpraktikerin für ­Psychotherapie, Coach und Expertin für psychologische Beratungsfragestellungen tätig. Sie ist Partnerin bei der Hamburger Unternehmensberatung CaaS – ­Competence-as-a-Service GmbH.
www.competence-as-a-service.com

Text: Katja Henge