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Vom Dach gefallen
Ein Unternehmen beauftragt eine Fremdfirma mit Wartungsarbeiten. Dabei stürzt ein Mitarbeiter des Auftragnehmers vom Dach. Hätte der Auftraggeber den „fremden“ Mitarbeiter vor den Sicherheitsrisiken warnen müssen?
Sachverhalt
Auftragnehmer A schickt zur Erfüllung eines Vertrages über die turnusmäßige Wartung und Instandhaltung der Rauch- und Wärmeabzugsanlage (RWA-Anlage) seinen Mitarbeiter M in das Betriebsgebäude der B. Der erstmals dort tätige M stürzte aus neun Metern Höhe vom Dach der nicht durchtrittsicheren Lagerhalle und verletzte sich schwer. M ist Kläger und verlangt von Auftraggeber B angemessenes Schmerzensgeld – mindestens 100.000 Euro.
Das Urteil
Das Landgericht (LG) Koblenz wies die Klage ab1 – und das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz bestätigte das Urteil2.
A. Zwar Arbeitsschutzpflichten des Auftragnehmers und nicht des Auftraggebers gegenüber M
M verklagt den Auftraggeber B, dessen Arbeitnehmer er nicht ist. Die Gerichte arbeiten den Grundsatz heraus, „dass auch dann, wenn mehrere Unternehmer zusammenarbeiten, jeder Arbeitgeber für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz seiner eigenen Beschäftigten selbst verantwortlich ist“ –, und daher „trägt nicht der Inhaber des Betriebes, auf dessen Betriebsgelände die Arbeitnehmer gerade tätig sind, die Verpflichtung zur Durchführung der arbeitsschutzrechtlichen Maßnahmen“. Das bestätigt § 5 Abs. 3 Satz 1 DGUV Vorschrift 1: „Bei der Erteilung von Aufträgen an ein Fremdunternehmen [hier A] hat der den Auftrag erteilende Unternehmer den Fremdunternehmer [hier B] bei der Gefährdungsbeurteilung bezüglich der betriebsspezifischen Gefahren zu unterstützen.“ B unterstützt also, die Gefährdungsbeurteilung erstellen muss aber A als Arbeitgeber.
Dieser Auftragnehmer ist als sein „Arbeitgeber verpflichtet, die drohenden Gefährdungen zu ermitteln und entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Er ist es, der seinem Beschäftigten den Arbeitsplatz in dem Fremdbetrieb zuweist; daher muss er auch für die Sicherheit seines Beschäftigten dort einstehen. Die für seine Gefährdungsbeurteilung notwendigen Informationen muss er sich dabei von seinem Auftraggeber beschaffen“. Das folgt aus der Pflicht zur Abstimmung und zur Zusammenarbeit gemäß
§ 8 Abs. 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG).
B. Aber Zusammenarbeitspflichten gemäß § 8 ArbSchG
In Betracht kommt aber die Verletzung der Zusammenarbeitspflichten gemäß § 8 ArbSchG, der „auch für Außeneinsätze gilt“ – also auch für die Tätigkeit auf dem Betriebsgelände der B. § 8 Abs. 2 ArbSchG ist ein „Spezialfall der Unterweisung“. Auch § 8 Abs. 2 ArbSchG „verändert nicht die Verpflichtung des Arbeitgebers solcher Fremdbeschäftigten, für die Durchführung der arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen zu sorgen“. Aber „der Arbeitgeber, auf dessen Betriebsgelände solche Fremdbeschäftigten tätig sind, hat die Pflicht, sich zu vergewissern, ob diese fremden Arbeitnehmer von ihrem Arbeitgeber Anweisungen arbeitsschutzrechtlicher Art von ihrem Arbeitgeber erhalten haben“.3
C. Zwar Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten des M
Der klagende M kann auch grundsätzlich einen vertraglichen Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gegen den Auftraggeber haben, obwohl nicht M selbst, sondern sein Arbeitgeber unmittelbarer Vertragspartner ist. Das „Institut des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter beruht auf einer ergänzenden Vertragsauslegung und knüpft an den hypothetischen Willen der Parteien an, der gemäß § 157 BGB unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu erforschen ist.4 Danach können auch Personen, die nicht selbst Vertragspartner, jedoch einem von dem Vertrag besonders geschützten Personenkreis zuzurechnen sind, in die aus einem Vertrag folgenden Sorgfalts- und Schutzpflichten einbezogen werden. Den Besteller einer Werkleistung trifft die vertragliche Pflicht, alles ihm Zumutbare zu tun, um seinen Vertragspartner bei der Ausführung der Arbeiten vor Schaden zu bewahren. Stellt der Besteller ein Grundstück oder ein Arbeitsgerät für die Werkleistung zur Verfügung, erstreckt sich seine vertragliche Pflicht darauf, im Rahmen des Zumutbaren hiervon ausgehende Gefahren für den Vertragspartner zu vermeiden. Bei schuldhafter Verletzung der vertraglichen Schutzpflichten haftet der Besteller seinem Vertragspartner gemäß § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz5“.
Hier war der Wartungsvertrag ein „Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, in dessen Schutzbereich auch der Kläger einbezogen war“. Denn M „war als Arbeitnehmer des Auftragnehmers mit Arbeiten an einer Halle der Bestellerin B betraut; der Auftragnehmer hatte aufgrund ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber des Klägers ein schutzwürdiges Interesse an dessen Einbeziehung und dies war auch für den Besteller erkennbar“.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
§ 157 Auslegung von Verträgen
Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
§ 242 Leistung nach Treu und Glauben
Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
§ 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung
(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)
§ 8 Zusammenarbeit mehrerer Arbeitgeber
(1) Werden Beschäftigte mehrerer Arbeitgeber an einem Arbeitsplatz tätig, sind die Arbeitgeber verpflichtet, bei der Durchführung der Sicherheits- und Gesundheitsschutzbestimmungen zusammenzuarbeiten. Soweit dies für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit erforderlich ist, haben die Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten insbesondere sich gegenseitig und ihre Beschäftigten über die mit den Arbeiten verbundenen Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu unterrichten und Maßnahmen zur Verhütung dieser Gefahren abzustimmen.
(2) Der Arbeitgeber muss sich je nach Art der Tätigkeit vergewissern, dass die Beschäftigten anderer Arbeitgeber, die in seinem Betrieb tätig werden, hinsichtlich der Gefahren für ihre Sicherheit und Gesundheit während ihrer Tätigkeit in seinem Betrieb angemessene Anweisungen erhalten haben.
D. Aber keine Verletzung der Sorgfaltspflicht
Der Auftragnehmer hat „keine ihr gegenüber dem Kläger obliegenden Schutzpflichten verletzt“ und „nicht gegen das ArbSchG verstoßen“.
Sie hat zwar „den Kläger bei Aufnahme der Arbeiten nicht danach befragt, ob er von seinem Arbeitgeber Anweisungen erhalten hat. Nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falles hat die Beklagte hierdurch jedoch nicht gegen Pflichten gemäß § 8 Abs. 2 ArbSchG verstoßen. Es ist gesetzlich nicht geregelt, in welcher Form die Beklagte ihrer Vergewisserungspflicht hätte nachkommen müssen. Es ist jedenfalls nicht erforderlich, dass jeder einzelne Fremdbeschäftigte stets vor Aufnahme seiner Tätigkeit nach erhaltenen Anweisungen befragt wird; Stichproben können genügen, ebenso, dass der Auftraggeber vorab mit dem Auftragnehmer die zu erteilenden Weisungen abspricht oder sich diese von ihm bestätigen lässt.
Der Betriebsinhaber muss nicht die Unterweisungspflicht des anderen Arbeitgebers durchsetzen, er soll lediglich im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür sorgen, dass die besonderen Gefahren der Zusammenarbeit berücksichtigt werden. Die Fremdfirmenbeschäftigten sollen gerade vor Gefährdungen geschützt werden, die aus ihrer Unkenntnis der Verhältnisse im Einsatzbetrieb resultieren. Die Vergewisserungspflicht steht insoweit unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit.“6
Hier war nach dem OLG Koblenz aus zahlreichen Gründen keine Vergewisserung i. S. d. § 8 Abs. 2 ArbSchG und kein Hinweis auf die nicht trittsicheren Lichtbänder erforderlich:
- „Die großflächigen Lichtbänder im Dach waren bei einem Aufenthalt in der Halle ganz deutlich zu erkennen. Durch diese Lichtbänder fiel – ähnlich Fenstern – helles Tageslicht ein, während die übrige Fläche des Daches lichtundurchlässig war.“
- „Der Kläger selbst hat vorgetragen, dass er von dem Betriebsleiter des Bestellers empfangen und ihm die Anlage in der Halle gezeigt wurde.“
- „Der Kläger war bei einer Firma beschäftigt, deren Betätigungsfeld der Brandschutz ist. RWA-Anlagen haben ihre Abzüge aber in der Regel gerade auch über die Dächer. Die übliche Tätigkeit des Klägers bei seinem Arbeitgeber schloss also typischerweise auch Überprüfungen im Bereich von Dächern ein.“
- „Der Kläger hat auch in den Jahren 2006 und 2012 an beruflichen Weiterbildungsseminaren teilgenommen, die auch Gefahren bei Arbeiten auf Dächern und entsprechende Unfallverhütungsmaßnahmen zum Gegenstand hatten“ – sein Arbeitgeber hat im Prozess eine Broschüre „Wartung von RWA-Anlagen – Keine Routine auf dem Dach“ vorgelegt.
- „Bei den Lichtbändern in dem Hallendach handelte es sich gerade nicht um eine besondere Gefahrenquelle im Betrieb des Auftraggebers, von der der Kläger als Fremdfirmenbeschäftigter keine Kenntnis haben konnte und in Bezug auf die er somit auf Informationen durch den Auftraggeber angewiesen war. Vor offenkundigen und klar erkennbaren Gefahrenquellen muss nicht gewarnt werden.“
Die wesentlichen Rechtsgrundsätze des Urteils
- Arbeitgeber haben Arbeitsschutzpflichten nur jeweils gegenüber ihren eigenen Beschäftigten.
- Auftragnehmer sind auch für die Arbeit ihrer Beschäftigten in Fremdbetrieben des Auftraggebers verantwortlich.
- Instandhaltungs- und Wartungsverträge verpflichten Auftraggeber zum Schutz der Beschäftigten des Auftragnehmers (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter).
- Die Zusammenarbeitspflichten gemäß § 8 ArbSchG gelten auch für Außeneinsätze.
- Die Vergewisserungspflicht des § 8 Abs. 2 ArbSchG steht unter dem „Vorbehalt der Erforderlichkeit“ – sie erfordert nicht, jeden einzelne Fremdbeschäftigten stets vor Aufnahme seiner Tätigkeit nach erhaltenen Anweisungen zu befragen, und es „muss nicht die Unterweisungspflicht des anderen Arbeitgebers durchgesetzt werden“.
- Durch die Vergewisserung gemäß § 8 Abs. 2 ArbSchG soll der andere Arbeitgeber
„im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür sorgen, dass die besonderen Gefahren der Zusammenarbeit berücksichtigt werden“. - „Die Fremdfirmenbeschäftigten sollen gerade vor Gefährdungen geschützt werden, die aus ihrer Unkenntnis der Verhältnisse im Einsatzbetrieb resultieren.“
- „Vor offenkundigen und klar erkennbaren Gefahrenquellen muss nicht gewarnt werden.“
DER AUTOR
Dr. Thomas Wilrich ist Professor an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München. Als Rechtsanwalt ist er unter anderem in den Bereichen Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Baurecht, Betriebssicherheit sowie Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht tätig. Als Autor hat er zahlreiche Bücher geschrieben, die sich an Führungskräfte und Arbeitsschutzakteure richten (u. a. „Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure“ und „Technik-Verantwortung: Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte – Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte“).
1 LG Koblenz, Urteil v. 05.02.2018 (Az. 16 4 O 320/16).
2 OLG Koblenz, Urteil v. 13.12.2018 (Az. 1 U 296/18).
3 Zu Verkehrssicherungs-, Hinweis- und Durchsetzungspflichten des Bauherrn siehe Wilrich, Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Haftung der Baubeteiligten (2021).
4 Typisches Beispiele sind auch die Betreuungsverträge der Fachkräfte für Arbeitssicherheit – siehe Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure: Unterstützungs-, Beratungs-, Berichts-, Prüfungs-, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen (2022).
5 Hier verweist das Gericht auf BGH, Urteil v. 07.12.2017 (Az. VII ZR 204/14).
6 Siehe auch Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte – Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte (2022).