Ist die Kontrolle jetzt wirklich besser?

Das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Arbeitsschutzkontrollgesetz soll die Rechtsdurchsetzung im Arbeitsschutz verbessern. PRÄVENTION AKTUELL fasst die wesentlichen Inhalte zusammen.

Rheda-Wiedenbrück im Juni 2020: In der nordrhein-westfälischen Stadt und den umliegenden Gebieten kommt es zu massiven Corona-Ausbrüchen. Der gesamte Landkreis Gütersloh muss in einen rigiden Lockdown. Rheda-Wiedenbrück ist der Hauptsitz des Fleischriesen Tönnies. Zunächst verzeichnete der deutsche Marktführer mit seinen 7.000 Mitarbeitern nur wenige Corona-Fälle. Doch ab Mitte Juni 2020 stieg die Zahl der Infizierten sprunghaft an. Am Ende lag sie bei rund 2.100 – dazu zählten Tönnies-Beschäftigte, aber auch deren Angehörige und Mitbewohner.

Damit war klar: Das Virus hatte sich in der Produktion von Tönnies ausgebreitet. Auf öffentlichen Druck musste Konzernchef Clemens Tönnies zugeben: „Wir sind die Ursache dieses Themas und stehen in voller Verantwortung.“ Die gesamte Belegschaft musste in Quarantäne, der zuständige Landrat schloss den Betrieb vorläufig. Nicht nur Tönnies, auch andere Unternehmen der Fleischindustrie mussten große Corona-Ausbrüche hinnehmen. Die Arbeitsbedingungen in der Branche gerieten erneut in den Blick der Öffentlichkeit und der Politik. Die damalige Bundesregierung reagierte mit einer Gesetzesinitiative, aus der am 1. Januar 2021 das Arbeitsschutzkontrollgesetz (ArbSchKG) hervorging.

Aber der Corona-Ausbruch bei Tönnies war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie standen bereits seit Langem in der Kritik. Die meist osteuropäischen Beschäftigten waren bei Subunternehmen angestellt, schlecht bezahlt und wohnten häufig in überteuerten und heruntergekommenen Unterkünften. Zudem mussten sie ihre Arbeitsmittel (beispielsweise Messer) teilweise selbst bezahlen. Der gesetzliche Mindestlohn wurde so unterlaufen. Die Fleischindustrie wies Kritik daran stets mit dem Argument zurück, es seien ja schließlich die Subunternehmer, die die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen trügen.

Die meist osteuropäischen Beschäftigten waren bei Sub-unternehmen angestellt, schlecht bezahlt und wohnten häufig in überteuerten und heruntergekommenen Unterkünften

Bereits 2017 war daher das „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“ (GSA Fleisch) in Kraft getreten, nachdem die Großunternehmen der Fleischindustrie eine 2015 eingegangene Selbstverpflichtung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht eingehalten hatten. Durch das GSA Fleisch sind die Fleischbetriebe dafür verantwortlich, dass die Subunternehmen angemessene Sozialversicherungsbeiträge bezahlen und die deutschen Arbeitsgesetze einhalten. Um die Umgehung des Mindestlohns zu verhindern, wurde außerdem festgelegt, dass Arbeitsmittel, Schutzkleidung und -ausrüstung unentgeltlich vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden müssen.

Das Gesetz hatte jedoch einen entscheidenden Geburtsfehler: Den Kern des Geschäftsmodells der Branche, mit Werkverträgen und Subunternehmern zu arbeiten, packte das GSA Fleisch nicht an, er blieb unangetastet. Das wollte man mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz ändern. Es ist kein herkömmliches Einzelgesetz, sondern es umfasst ein Gesetzespaket, mit dem bestehende Gesetze verändert und erweitert werden. Der vollständige Titel lautet: „Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz“. Das ArbSchKG nimmt Änderungen unter anderem am Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), an der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) und am Sozialgesetzbuch (SGB) VII vor. Ziel ist es, sichere und faire Arbeitsbedingungen zu fördern. 

IN DEN BEREICHEN SCHLACHTUNG, ZERLEGUNG UND FLEISCHVERARBEITUNG DÜRFEN KEINE WERKVERTRAGSBESCHÄFTIGTEN MEHR EINGESETZT WERDEN

Die wichtigste Änderung besteht in einer Ergänzung des GSA Fleisch. Erstmalig wird der Kern des Geschäftsmodells der Fleischindustrie berührt. So dürfen jetzt in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung keine Werkvertragsbeschäftigten mehr eingesetzt werden, die Mitarbeiter müssen fest angestellt ­werden. Die Subunternehmer sollen so aus dem Spiel genommen werden. Auch Leiharbeiter dürfen seit dem 1. April 2021 nicht mehr beschäftigt werden, allerdings gilt hier eine Übergangsfrist von drei Jahren.

Zudem wurde eine Einigung bezüglich der betrieblichen Unterkünfte erzielt und in die Arbeitsstättenverordnung eingefügt. Diese Regelung bezieht sich nicht nur auf Unterkünfte für Beschäftigte in der Fleischindustrie, sondern auch auf Branchen wie die Landwirtschaft bei der Unterbringung von Saisonarbeitskräften oder Erntehelfern. Demnach muss der Arbeitgeber Beschäftigten „angemessene Unterkünfte“ inner- oder außerhalb des Betriebsgeländes zur Verfügung stellen und dies dokumentieren. Die Dokumentationen müssen am Einsatzort der jeweiligen Beschäftigten verfügbar sein. So sollen effektivere Kontrollen der Unterbringungssituation möglich werden.

Um die Einhaltung der Mindestlohnvorschriften der Beschäf­tigten wirksam überprüfen zu können, gilt in der Fleischindustrie nun eine Pflicht zur elektronischen und manipulationssicheren Arbeitszeiterfassung und -aufbewahrung. Es wird außerdem ausdrücklich geregelt, dass Rüst-, Umkleide- sowie Waschzeiten – soweit erforderlich und dienstlich veranlasst – als Arbeitszeit mit zu erfassen sind.

NICHT ÜBERALL SIND VERBESSERUNGEN ERKENNBAR

Für Kritiker sind die Auswirkungen des Arbeitsschutzkontrollgesetzes bisher eher durchwachsen. Johannes Specht von der Tarifabteilung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung kommen in einem Aufsatz für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zu folgendem Schluss: „Einerseits haben die Fleischunternehmen tatsächlich das Werkvertragssystem weitgehend beendet. Andererseits sind andere Punkte des Gesetzes, etwa die Frage der Unterkünfte oder die erhöhte Kontrollquote, noch nicht entscheidend vorangekommen. Auch die Arbeitsbedingungen der ehemaligen Werkvertragsbeschäftigten haben sich in vielen Unternehmen bislang kaum verbessert.“

Ist die Kontrolle jetzt wirklich besser? Schweinehälfte
Illustration: Liebchen+Liebchen GmbH

Denn die Fleischunternehmen haben häufig die kompletten bisherigen Subunternehmen übernommen. Damit wurden aber auch deren Hierarchiestrukturen und Arbeitskulturen mit übernommen, mitsamt Leitungs- und Führungskräften der Subunternehmen. Genau diese Personengruppe war es, die in den Subunternehmen den direkten Druck auf die Werkvertragsbeschäftigten ausübte und mit einer enormen Machtfülle ausgestattet war: Wer als einfacher Beschäftigter in Ungnade fiel, weil er oder sie angeblich zu langsam arbeitete, wer sich krankmeldete, wer einen Arbeitsunfall meldete, wer mit der Gewerkschaft sprach oder wer nicht bereit war zu überlangen Arbeitstagen und Sonderschichten, bekam im mildesten Fall Urlaub gestrichen und damit den Familienbesuch im Heimatland. Häufig wurde er auch einfach entlassen und stand, da der Schlafplatz an das Arbeitsverhältnis gekoppelt war, ohne Arbeit, Wohnung und Geld da.

Die Autoren Specht und Schulten sind der Ansicht, dass das Arbeitsschutzkontrollgesetz durchaus die Spielregeln der Branche verändert habe, dies aber keineswegs automatisch zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen werde. „Entscheidend für die Neuordnung der Branche wird vor allem die Entwicklung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung sein.“

Weitere wichtige Eckpunkte des neuen Gesetzes sind nicht auf die Fleischindustrie beschränkt, sondern gelten branchenübergreifend. So müssen ab 2026 pro Kalenderjahr mindestens fünf Prozent der in einem Bundesland vorhandenen Betriebe durch die Aufsichtsbehörden der Länder aufgesucht und überwacht werden, die sogenannte Mindestbesichtigungsquote. Bisher war die Zahl der Besichtigungen dem Ermessen der Aufsichtsbehörden überlassen. Die Mindestbesichtigungsquote kann durch Ländergesetzgebung nicht ­verändert werden.

Ist die Kontrolle jetzt wirklich besser? Tabelle besichtigte Betriebe
Tabelle: Liebchen+Liebchen GmbH

Die Bundesländer, die für den staatlichen Arbeitsschutz zuständig sind, reagieren mittlerweile auf das Arbeitsschutzkontrollgesetz. So hat beispielsweise Nordrhein-Westfalen zum 1. April 2022 eine Strukturreform des Arbeitsschutzes in Kraft gesetzt. In NRW haben viele Unternehmen der Fleischindustrie ihren Sitz, unter anderem auch Tönnies. Neben zahlreichen organisatorischen Änderungen will das Land noch in diesem Jahr 100 zusätzliche Planstellen (693 statt 593) für Aufsichtsbeamtinnen und -beamte sowie 15 zusätzliche Verwaltungsstellen schaffen. Diese Aufstockungen sind nötig, um die Vorgaben des neuen Gesetzes einzuhalten.

In den vergangenen Jahren sind die Betriebsbesichtigungen durch die Aufsichtsämter kontinuierlich zurückgegangen. Dies ist laut Begründung zum Gesetzentwurf vor allem auf sinkende Personalressourcen der Länder zurückzuführen. Auch Arbeitsunfälle haben sich zwar in den letzten 20 bis 30 Jahren weiter stark verringert, zeigen aber in den vergangenen zehn Jahren eine Stagnation. Durch die Einführung einer Mindestbesichtigungsquote im Arbeitsschutzgesetz soll die abnehmende Kontrolldichte im Arbeitsschutz gestoppt und schrittweise eine deutliche Steigerung bei den Betriebsbesichtigungen erreicht werden.

MINDESTBESICHTIGUNGSQUOTE SOLL ZU HÖHERER KONTROLLDICHTE FÜHREN

Ist die Kontrolle jetzt wirklich besser? Illustration
Illustration: Liebchen+Liebchen GmbH

Die Einhaltung der Mindestbesichtigungsquote der staatlichen Aufsichtsbehörden soll durch die Einrichtung einer Bundesfachstelle für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, die bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) angesiedelt ist, begleitet werden. Die Bundesfachstelle soll die kontinuierliche Überwachung des Handelns der staatlichen Aufsichtsämter sicherstellen und die Jahresberichte und Kontrollaktivitäten der Arbeitsschutzaufsicht der Länder statistisch erfassen und auswerten. Die Ergebnisse sollen im jährlichen Bericht der BAuA über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (SuGA-Bericht) veröffentlicht werden. 2023 soll eine erste Zwischenauswertung der Kontrolldichte in den Ländern vorgenommen werden.

Laut dem SuGA-Bericht 2020 wirkt sich aktiveres Vorgehen der staatlichen Arbeitsschutzbehörden positiv auf die Umsetzung des betrieblichen Arbeitsschutzes aus. Demnach hätten Studien gezeigt, dass die Besichtigung eines Betriebs durch eine staatliche Arbeitsschutzbehörde zu einer signifikanten Verbesserung des ­betrieblichen Arbeitsschutzniveaus führt. Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz wird zudem eine proaktive Überwachung unter Berücksichtigung des ­betrieblichen Gefährdungspotenzials gesetzlich verankert: Risikoreiche Betriebe sollen stärker überwacht werden als Betriebe risikoärmerer Branchen.

TRANSPARENTER DATENAUSTAUSCH

Der gegenseitige elektronische Datenaustausch zwischen Arbeitsschutzbehörden und den zuständigen gesetzlichen Unfallversicherungsträgern ist als weiteres wichtiges Thema in der neuen Fassung des ArbSchG aufgenommen worden. Dieser Teil des Gesetzes sieht ab 1. Januar 2023 eine Übermittlung der Besichtigungsdaten aus den Betrieben auf elektronischem Weg zwischen Landesbehörden und Unfallversicherungsträgern vor. Zur Erhöhung der Transparenz zwischen Aufsichtsbehörden und Unfallversicherung sollen konkret folgende Daten gegenseitig ab 2023 für die Besichtigungen des laufenden Jahres übermittelt werden:

  1. Name und Anschrift des Betriebs
  2. Anschrift der besichtigten Betriebsstätte, soweit nicht mit Nummer 1 identisch
  3. Kennnummer zur Identifizierung
  4. Wirtschaftszweig des Betriebs
  5. Datum der Besichtigung
  6. Anzahl der Beschäftigten zum Zeitpunkt der Besichtigung
  7. Vorhandensein einer betrieblichen ­Interessenvertretung
  8. Art der sicherheitstechnischen Betreuung
  9. Art der betriebsärztlichen Betreuung
  10. Bewertung der Arbeitsschutzorganisation einschließlich
    a) der Unterweisung
    b) der arbeitsmedizinischen Vorsorge und
    c) der Ersten Hilfe und sonstiger ­Notfallmaßnahmen
  11. Bewertung der Gefährdungsbeurteilung ­einschließlich
    a) der Ermittlung von Gefährdungen und Festlegung von Maßnahmen
    b) der Prüfung der Umsetzung der Maßnahmen und ihrer Wirksamkeit und
    c) der Dokumentation der Gefährdungen und Maßnahmen
  12. Verwaltungshandeln in Form von Feststellungen, Anordnungen oder Bußgeldern

„ES WIRD VERPFLICHTENDE PRÜFQUOTEN FÜR DEN ARBEITSSCHUTZ IN DEUTSCHLAND GEBEN“

Der Gesetzgeber hat sich mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz ein hohes Ziel gesetzt. Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sagte anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzes im Bundestag: „Wir sorgen für scharfe Kontrollen der Einhaltung der Arbeitsschutzstandards – nicht nur in der Fleischindustrie. Die Arbeitsschutzbehörden in vielen Bundesländern sind systematisch kaputtgespart worden. Das werden wir beenden. Es wird verpflichtende Prüfquoten für den Arbeitsschutz in Deutschland geben.“ So weit, so gut. Aber: Wenn ab 2026 fünf Prozent der Unternehmen jährlich geprüft werden, so wird es rein rechnerisch 20 Jahre dauern, bis alle Betriebe einmal an der Reihe waren.

Ist die Kontrolle jetzt wirklich besser? Arbeiter im Schlachthof
Das Arbeitsschutzkontrollgesetz beendet den ­Einsatz von Leiharbeitern in der Fleischindustrie. Foto: stock.adobe.com/davit85

Text: Franz Roiderer