„Veränderung wird zur Normalität“

Die Corona-Pandemie war ein Turbo für die Digitalisierung der Arbeitswelt. Welche Auswirkungen das auf die Tätigkeit von Fachkräften für Arbeitssicherheit haben wird, erzählt Katrin Zittlau vom Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) im Interview mit PRÄVENTION AKTUELL.

Frau Zittlau, die Arbeitswelt war auch schon vor Corona im Wandel begriffen. Hat Corona die Entwicklungen der Arbeit 4.0 beschleunigt?

Katrin Zittlau: Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hat das zeit- und ortsflexible Arbeiten stark zugenommen. Beschäftigte waren von heute auf morgen vom Homeoffice aus tätig, mit entsprechend allen Konsequenzen auch für die Familienorganisation. Insofern wurde dieser Aspekt der Arbeit 4.0 beschleunigt. Damit wurden auch insbesondere digitale Meeting-Tools populär und wir sprechen über Belastungen, die uns vorher gar nicht so bewusst waren, wie zum Beispiel soziale Isolation und die sogenannte „Zoom-Fatigue“. Uns muss bewusst sein, dass die Corona-Pandemie eine Ausnahmesituation war und ist. Der Schutz der Gesundheit durch die Infektionsgefahr war zu Anfang wesentlich wichtiger als alle Belastungen, die sich aus der plötzlichen Tätigkeit im Homeoffice ergeben haben. Mittlerweile wird vom sogenannten „New Normal“ gesprochen. Damit soll auch die Frage beantwortet werden, wie die Arbeit zu Hause gut in den betrieblichen Alltag integriert werden kann.

Wie kann das gelingen?

Zittlau: Aus meiner Sicht ist entscheidend, dass jetzt Überlegungen getroffen und Konzepte erarbeitet werden, die die Belastungssituation auf beiden Seiten – im Betrieb und zu Hause – berücksichtigen und das Optimum aus beiden „Welten“ finden. Wir wissen ja, dass Homeoffice als mobile Arbeit, zum Beispiel dank der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel, kein rechtsfreier Raum in Bezug auf den Arbeitsschutz ist. Auch hierfür muss die Beurteilung der Arbeitsbedingungen stattfinden, auch wenn der Arbeitgeber nicht für die Ausstattung zu Hause zuständig ist.

Veränderung wird zur Normalität: Portraitfoto Karin Zittlau
Katrin Zittlau gehört dem Vorstand des VDSI an und ist dort für das Ressort Gesundheit verantwortlich. Foto: VDSI

Was kennzeichnet diesen Wandel?

Zittlau: Zeit- und ortsflexibles Arbeiten ist nur ein kleiner Teil der Entwicklung. Dass Bildschirmarbeit flexibel stattfinden kann, ist lange bekannt und hat nun nochmals an Bedeutung gewonnen. Entscheidend sind die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie und die damit verbundene Vernetzung. Auch Beschäftigte in anderen Tätigkeitsbereichen werden von zu Hause aus arbeiten können. Eine Produktionsleiterin wird vom heimischen Sofa aus prüfen können, ob in der Produktion alles rundläuft. Arbeitsmittel werden über Algorithmen oder künstliche Intelligenz gesteuert. Sie arbeiten ohne Zutun des Menschen und entwickeln sich auch eigenständig weiter. Auch kann IT assistieren und den Beschäftigten bei seiner Arbeit unterstützen, natürlich auch in Abhängigkeit des Unterstützungsbedarfs des Beschäftigten. Das bietet Chancen im Sinne der Entlastung von Beschäftigten und der Integration von Menschen in den Arbeitsprozess, die eine individuelle Unterstützung benötigen. Neben den vielen technischen Möglichkeiten spielen außerdem nach wie vor der demografische Wandel und die Zusammenarbeit über Grenzen von Ländern und Kulturen hinweg eine Rolle.

Der Arbeitsschutz hatte vor Corona nicht immer den besten Ruf. Zu technikfokussiert, zu bürokratisch, zu unflexibel, für kleine Unternehmen oft nur schwer anwendbar. Hat Corona dieses Bild verändert?

Zittlau: Ich denke, dass Corona den Arbeitsschutz in zwei verschiedenen Richtungen befördert hat. Zum einen sind Arbeitsschutz und Beratung durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit in den Betrieben sichtbarer geworden. Auch in einer eigenen, nicht öffentlichen Interviewstudie, die ich durchgeführt habe, wurde deutlich, dass Fachkräfte für Arbeitssicherheit eher gesehen, gefragt und angesprochen wurden und werden. Insofern konnten sie ihre Fähigkeiten vielleicht deutlicher machen als zuvor. Zum anderen wird deutlich, dass Beschäftigte, die im Homeoffice oder mobil tätig sind, für die Beratung schwerer erreichbar sind. Hier braucht es neue Wege der Beratung, zum Beispiel über die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten oder Information und Nutzung von digitalen Tools.

Hat Corona auch direkte Auswirkungen auf den Arbeitsschutz und Arbeitsschutzmaßnahmen gehabt?

Zittlau: Thema Nummer eins war Corona und alle Maßnahmen, die damit in Verbindung stehen. Dabei spielte nicht nur der Infektionsschutz in der Beratung eine wichtige Rolle, sondern auch die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Beschäftigten im Sinne von neuen Belastungen, zum Beispiel Arbeit im Homeoffice, isolierte Arbeit oder Nutzung von neuer Software. Zudem haben die technischen Veränderungen wie Webmeeting-Tools Herausforderungen mit sich gebracht. Betriebsärzte waren ebenfalls gefordert, weil sie zur aktuellen Lage der Corona-Pandemie berichten, Prognosen abgeben, individuelle Beratungen durchführen und schließlich auch ­impfen mussten. Da war die Tätigkeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit – trotz Pandemie – wohl noch etwas abwechslungsreicher.

„ARBEITSSCHUTZ IN DEN BETRIEBEN IST SICHTBARER GEWORDEN“

Kann man also sagen, Corona hat auch im Arbeitsschutz für einen Innovationsschub gesorgt?

Zittlau: Normalerweise plant man Innovationen. Ich habe nicht geplant, in den Jahren 2020 und 2021 in erster Linie Webmeeting-Tools für -Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses zu nutzen. Ich denke, jede Fachkraft für Arbeitssicherheit befindet sich nun an einem Punkt in ihrer Tätigkeit, an dem die digitale Zusammenarbeit an Stellenwert gewonnen hat und man mit einer Handvoll Webmeeting-Tools arbeiten kann. Dies entlastet natürlich auch. Fahrzeiten haben sich beispielsweise reduziert. Die Corona-Pandemie hat sicher auch die ­Flexibilität befördert. Fachkräfte für Arbeitssicherheit mussten sich Gedanken machen, wie und mit welchen Beratungen sie die Unternehmerinnen und Unternehmer erreichen.

Veränderung wird zur Normalität: Icons Arbeitssicherheit
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Hat sich noch etwas verändert?

Zittlau: Interessant ist auch die rasante Entwicklung von Vorschriften und Informationen gewesen. Im März 2020 kam der Lockdown, im April lag bereits der Arbeitsschutzstandard vor, der schon recht umfassend geeignete Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nannte. Diese Schnelllebigkeit der Vorschriften, die die Fachkräfte für Arbeitssicherheit verfolgen mussten, hatte auch seine Herausforderungen, insbesondere für die, die bundeslandübergreifend tätig sind.

Seit Corona haben sich vermutlich auch die Beratungsthemen der Fachkräfte für Arbeitssicherheit verändert.

Zittlau: Im Grunde teilen sich die Themen in Corona und Nicht-Corona. In der Studie, die ich durchgeführt habe, wurde klar, dass Corona das Beratungsgeschehen beherrschte. Aber Befragte sagten auch, dass der Arbeitsschutz auch nach wie vor „normale“ Themen beinhaltet, wenngleich diese von Corona-Themen überdeckt werden. Wir Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben viel über Infektionsgefahren, Lagerung von entzündbaren Flüssigkeiten und Atemschutzmasken gelernt. Themen sind aber auch branchenspezifisch. Mobiles Arbeiten im Homeoffice ist und bleibt sicher ein großes Thema, spielt aber beispielsweise in Produktionsbetrieben oder dem Gesundheitsdienst nur eine untergeordnete Rolle.

Welche langfristigen Auswirkungen auf den Arbeitsschutz und welche Veränderungen sind in Zukunft zu erwarten?

Zittlau: Wie ich eingangs schon sagte, wird die Integration der mobilen Arbeit in die betrieblichen Prozesse durchdachte Konzepte erfordern, um die Vorteile aus beiden Welten miteinander zu vereinen. Gleichzeitig werden uns weitere technische Entwicklungen neue Möglichkeiten bieten, aber auch Belastungen mit sich bringen. Und wir werden sicher auch viel mit Notfall- und Krisenmanagement beschäftigt sein, um auf zukünftige Pandemiesituationen schneller reagieren zu können. Bei all den Veränderungen durch Corona dürfen wir aber nicht vergessen, dass sich die Arbeitswelt weiter in Richtung digitale Transformation verändert. Wichtig ist, die Arbeitsbedingungen aktiv zu gestalten und schon im Planungsprozess die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu berücksichtigen. Veränderung wird zur Normalität. Damit umzugehen, ist für Beschäftigte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit gleichermaßen relevant.

„DIE INTEGRATION DER MOBILEN ARBEIT IN DIE BETRIEBLICHEN PROZESSE WIRD DURCHDACHTE KONZEPTE ERFORDERN“

Frau Zittlau, vielen Dank für dieses Interview!

Text: Falk Sinß